Gefolgschaft

Letzte Woche Freitag, auf dem Weg ins Kino, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. In der Winterfeldstraße, vor dem Antiquariat Schend, blieb ich bei den Kisten mit den Sonderangeboten stehen. Und wie befürchtet, wurde ich fündig. Ich fand eine alte Ausgabe von Victor Klemperers „LTI“, der „Lingua Terzii Imperii“, der „Sprache des Dritten Reiches“. Klemperer ist Jude und Professor für Romanistik in Dresden gewesen. Weil seine Frau keine Jüdin war und sie zu ihm hielt, hat er die Nazizeit überlebt. „Du weißt es“, schreibt er in der Widmung an sie, „an wen ich denke, wenn ich vor meinen Hörern über Heroismus spreche“. Richtig berühmt geworden ist Klemperer aber erst nach seinem Tod mit der Herausgabe seiner Tagebücher. Sie sind eines der eindrucksvollsten Zeugnisse des Alltags in der Nazizeit aus der Sicht eines Verfolgten.

Als ich „LTI“ in den Händen hielt und darüber nachdachte, ob ich es gegen meine alte vergilbte Reclam-Ausgabe austauschen sollte, musste ich an das denken, was mir ein Freund vor ein paar Jahren erzählt hatte. An dem kleinen kunsthistorischen Institut, an dem er damals arbeitete, hatte eine Professorin auf einer Institutssitzung ein zentrales Wort aus „LTI“ verwendet. Sie wollte damit einen Kollegen diskreditieren, der, wie sie meinte, mit seiner „Gefolgschaft“ die Umsetzung der Bologna-Reform blockiere.

Victor Klemperer widmet „Gefolgschaft“ ein ganzes Kapitel in „LTI“. Für ihn drückt dieses Wort beispielhaft die während der NS-Zeit stattfindende Emotionalisierung aller Verhältnisse und Dinge aus. „Die ganze Gefühlsverlogenheit des Nazismus, die ganze Todsünde des bewussten Umlügens der vernunftunterstellten Dinge in die Gefühlssphäre und des bewussten Verzerrens im Schutz der sentimentalen Vernebelung“. Gibt man das Wort in die Suchmaske des Katalogs der Deutschen Nationalbibliothek ein, so findet man zahllose Buchtitel, die zwischen ’33 und ’45 das Wort „Gefolgschaft“ enthalten. Bei auffällig vielen Titeln geht es um Unternehmensführung oder Themen, die in diesem Zusammenhang stehen. Auch Klemperers Kapitel über „Gefolgschaft“ beginnt mit seiner Erinnerung an den sogenannten „Gefolgschaftssaal“, der sich in der Fabrik befand, in der er Zwangsarbeit leisten musste. Hier waren die jüdischen Angestellten und Arbeiter getrennt von den „Ariern“ untergebracht. Immer, wenn eine Betriebsversammlung stattfinden sollte, wurde der Saal festlich geschmückt und dann geräumt, „judenfrei“ gemacht.

„Gefolgschaft! Was waren denn die Leute, die dort zusammenstanden in Wahrheit? Arbeiter und Angestellte waren sie, die gegen eine bestimmte Entlohnung bestimmte Pflichten erfüllten. … Und nun im Gefolgschaftssaal wurden sie aus der Klarheit dieses Regulativs herausgenommen und durch ein einziges Wort kostümiert und verklärt: Gefolgschaft, das belud sie mit altdeutscher Tradition, das machte sie zu Vasallen, zu waffentragenden und Treue verpflichteten Gefolgschaftsleuten adliger ritterlicher Herren.“ Dabei handelte es sich alles andere als um eine „harmlose Kostümierung“: „Es bog ein friedliches Verhältnis ins Kriegerische; es lähmte die Kritik; es führte unmittelbar zur Gesinnung jenes auf allen Spruchbändern prangenden Satzes: ‚Führer, befiehl, wir folgen!’“

Vielleicht hatte die Professorin an dem Institut, in dem der Freund gearbeitet hat, zu viel Literatur aus dem 19. Jahrhundert gelesen. In dessen romantisch-nationalistischem Geist war das Wort „Gefolgschaft“ nämlich erst entstanden. Laut dem Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul handelt es sich um die Übersetzung des lateinischen „comitatus“, mit dem Tacitus die „durch Treueverpflichtung gebundene Begleiter eines (germanischen) Fürsten“ bezeichnete. Ein Wort also, das bei den Germanen eine Bedeutung hatte, nicht aber im Industriezeitalter mit seinen Arbeitsverträgen.

Aber die Professorin ist nicht die einzige, die „Gefolgschaft“ in ihren Wortschatz aufgenommen hat. Als ich nach dem Wort im Internet suchte, fand ich ein Interview, das im vorigen Jahr in „brandeins“ erschienen ist. In der Oktobernummer des als innovativ geltenden Wirtschaftsmagazin gab es einen Schwerpunkt „Vertrauen und Mitarbeiterführung“. Unter dem Titel „Ich brauche Gefolgschaft“ veröffentlichte das Magazin ein Interview mit Christoph Vilanek, dem Chef der fast 5000 Mitarbeitern der Freenet AG, einer großen deutschen Telefongesellschaft. „Ich brauche in erste Linie nicht das Vertrauen aller Mitarbeiter“, sagt Vilanek dort, „sondern ihre Gefolgschaft. Es ist meine Führungsaufgabe, den Leute zu sagen, welche Ziele wir verfolgen und welchen Sinn das hat.“ Offenbar kennt auch der Interviewer, Dirk Böttcher, die Geschichte des Wortes nicht, oder er traut sich nicht, den erfolgreichen Manager auf das „Führer, befiehl, wir folgen dir“ hinzuweisen. Stattdessen sagt er nur, „Gefolgschaft klingt militärisch“, und Vilanek daraufhin: „Ja, natürlich. Es geht um rationale wirtschaftliche Notwendigkeiten, denen Folge zu leisten ist.“

Vilaneks Verwendung des Wortes scheint der Emotionalisierung des Arbeitsverhältnisses, wie es Klemperer beschreibt, zu widersprechen. Bei ihm geht es ja nur um die bloße Einsicht der Mitarbeiter in die Notwendigkeit, die naturgegeben und unumstößlich ist, für die keine Diskussion nötig und schon gar nicht sinnvoll ist. Der Mitarbeiter fungiert für den Freenet-Chef als eine Art Maschine, bei der es aufs funktionieren, aufs „Folgen“ ankommt. Aber warum verwendet er dann nicht gleich das eindeutigere, das wirklich auf das Militär hinweisende „Gehorsam“? Warum „Gefolgschaft“, dieses, mal abgesehen von seinem NS-Kontext, altertümlich wirkende Wort?

Weil er weiß, dass „Gehorsam“ nicht funktionieren würde. Die, die gehorchen wollen, gehen zur Bundeswehr. „Gefolgschaft“ klingt da viel besser. „Nur eine ganz kleine Wendung ins Altdeutsche“, schreibt Klemperer, „das durch sein Alter und Nicht-mehr-im-Alltagsgebrauch-sein poetisch wirkt und eine ganz andere Gemütslage des Angeredeten ist erreicht, seine Gedanken sind in eine andere Bahn gelenkt, oder sie sind ausgeschaltet“. Perfide wird Vilanek dann dort, wo er Ingeborg Bachmann zitiert: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. Es ist der Titel ihrer Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden. Wahrscheinlich hat Vilanek nicht viel von Bachmann gelesen. Oder er hat das, was er von ihr gelesen hat, nicht verstanden. Denn wie keine andere Nachkriegsautorin hat sie sich mit der Sprache der NS-Zeit kritisch auseinandergesetzt. In ihrer Dissertation zu Martin Heidegger, in ihren Gedichten und ihrer Prosa. Sensibilisiert für die Lügensprache des Dritten Reiches hatte sie nicht zuletzt ihre große Liebe Paul Celan.

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