Monat: Mai 2024

Nachbarn

Im Erdgeschoss im Nachbarhaus standen zur Straße hin die Fenster offen. Im Innern war es dunkel, aber man konnte einen Spiegel mit einer Holzeinfassung im Stil des 19. Jahrhunderts erkennen. Im rechten Zimmer stand ein großes Ehebett und eine weiße Kommode, von der die Schubladen aufgezogen waren. Durch den schmalen Durchgang zum Hof trugen zwei Männer mühsam einen riesigen weißen Kunstledersessel auf die Straße, der dort noch zwei Tage später neben einem der Straßenbäume stand. In zweiter Reihe auf der Straße parkte ein kleiner Lieferwagen mit offenen Hecktüren.

Zum Laubhüttenfest hatten sie Ende September im Hof noch mit Dachlatten eine symbolische Hütte aufgebaut. Das Dach bestand aus vereinzelten Tannenzweigen, durch die ich von oben, von unserem schmalen Badfenster aus, hindurchsehen konnte. An der Stirnwand hing ein großes Porträt von Menachem Mendel Schneerson, der mit seinem langen weißen Bart und seinem schwarzen Hut freundlich lächelnd in die Kamera blickt. Manche der Chabad Lubawitscher, lese ich, halten ihn für den Messias, obwohl er selbst das nie geglaubt hat und die Bewegung das offiziell auch nicht so sieht. In Mykolajiw 1902 geboren, war er vor den Deutschen über Frankreich in die USA geflohen und in New York 1994 gestorben.

Anfang Oktober saßen dann rund ein Dutzend Männer und Frauen in der symbolischen Laubhütte und feierten. Eine Lichterkette beleuchtete den langen Tisch, auf dem Glasvasen mit Blumen standen. Einmal brüllte eine Frau aus einem der zahlreichen Fenster unseres großen Hinterhofs „Ruhe“. Tagsüber, wenn ich mit meinem Fahrrad vom Hof fuhr, stand die Hütte leer. Dann war sie wieder verschwunden.

Von der Familie, die in der Erdgeschosswohnung im Nachbarhaus wohnte, habe ich nur wenig mitbekommen. Meistens waren die Rollläden an den Fenstern zur Straße heruntergelassen. Am auffälligsten war der grüne Elektroroller, der immer auf dem Bürgersteig vor der Wohnung stand. Und der kleine junge Mann, der in seinem schwarzen Anzug und schwarzen Hut mit dem Roller in die Westfälische einbog und zur Münsterschen Straße fuhr. Dort war letzten Sommer gerade neben der Synagoge ein Neubau für ein Bildungszentrum der Chabad Lubawitscher fertig geworden. Die Betonpoller, die Sicherheitsschleuse und der hohe Metallzaun erinnern mich immer an ein Gefängnis. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeifahre, denke ich, dass die Sicherheitsmaßnahmen im Grunde eine Niederlage der deutschen Gesellschaft sind. Nach antisemitischen Unruhen in Prag hat Franz Kafka einmal in einem Brief an Milena Jesenska geschrieben: „Eine widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben“. Inzwischen hat die Gemeinde die Betonmauer neben dem Eingang bunt bemalt. „Wir sind ein offenes Haus“, hatte Rabbiner Yehuda Teichtal bei der Eröffnung letztes Jahr gesagt. „Alle Menschen sind bei uns willkommen, Juden, Christen, Muslime, Menschen ohne religiösen Hintergrund“.

Manchmal sah ich den Mann mit seiner Frau und einem Kinderwagen auf der Straße. Und einmal waren an einem Sommerabend, als ich an der Wohnung vorbeiging, die Fenster geöffnet, und ein Mann, der auf einem Fensterbrett saß, fragte mich auf Englisch nach der Uhrzeit. Ich war ein bisschen verwirrt über die Frage. Später fiel mir ein, dass Freitag war und am Freitag, bei Sonnenuntergang, der Schabat beginnt.

Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag genau, aber an einem der Tage nach dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas in Israel, standen mehrere Männer auf dem Bürgersteig vor der Wohnung und diskutierten. Einer von Ihnen war der junge Vater mit dem schwarzen Hut.

Der Schornstein

Die ganze Nacht hatte es geregnet. Die Stadt roch nach Feuchtigkeit, die als dünner Film auf allem lag. Der Asphalt glänzte tiefschwarz, hellbraun gesprenkelt von den Blättern, die der verspätete Herbst überall verteilt hatte. Die Straßen waren leer, nur hier und da ein Frühaufsteher oder ein Heimkehrer, der die Nacht durchgemacht hatte. E. und ich fuhren am leeren Pförtnerhäuschen vorbei auf den Hof der Schlossparkklinik. Ich auf dem Rad, E. im Anhänger.

Wir waren zu früh an diesem Sonntagmorgen; der Schwimmkurs sollte erst in einer halben Stunde im Reha-Schwimmbad beginnen. Ich schloss das Rad vor einem Quergebäudes der Klinik an und ließ E. aus dem Anhänger. Dann trat ich einen Schritt zurück und sah mich um. Über dem Dach eines weiteren, älteren Gebäudes, das eine schmale Straße weiter hinunter stand, ragte ein hoher Schornstein. Wozu mochte er gehören? Vielleicht zum älteren Teil des Krankenhauses, dass es schon im 19. Jahrhundert gegeben hatte? Direkt neben dem Quergebäude befand sich ein weiteres Haus aus gelben Klinkern, das wohl aus den 1980er Jahren stammte. Es war nicht ganz klar, ob es ebenfalls zum Krankenhaus gehörte, denn die Fassade war übersät mit kleinen Balkonen. Vielleicht ein Appartementhaus? Doch die Wohnungen schienen leer zu stehen. Nur auf zwei der vielen Klingeln neben der Eingangstür, die E. und ich uns ansahen, standen Namen; auf allen anderen eine Nummer.

Die Stille, die alles umgab, hatte zwei Seiten. Einerseits war sie beruhigend, so, als würde die Zeit stillstehen und mit ihr alle Probleme ruhen. Andererseits war die Leere, die uns umgab, gleichzeitig die Abwesenheit von Leben. Vielleicht spürte auch E. das, denn sie blieb stehen. Sie zweifelte daran, ob man die Straße, die über das Gelände führte, weitergehen dürfe. Ich redete beruhigend auf sie ein und ging weiter. Nach kurzem Zögern folgte sie mir, und hinter einer weiteren Gebäudeecke, zwischen Bäumen, tauchte ein offenbar stillgelegtes Kesselhaus auf, zu dem der hohe Schornstein gehörte. Es schien schon lange leer zu stehen. Auf dem kleinen Platz davor stand eine gelbe Telefonzelle. Ein altes Modell aus Metall, keines mit runden Kanten und gelbem Plastik überzogenes der späten Bundespost, auch keine lila-graue Zelle der letzten, der Telekom-Generation. Wie aus der Zeit gefallen stand sie da und als ich die Tür öffnete, erkannte ich sofort das typische, wie aus einer fernen Vergangenheit kommende metallische Knarren und Klacken.

Es war eine Bücherzelle. An der Rückwand, auf einem Regal, standen Bücher, die sich einmal gut verkauft hatten. Manchmal fand man zwischen den alten Bestsellern etwas, und ich konnte nie an einer solchen Zelle vorbeigehen ohne hineinzusehen. E. begutachtete die unteren Reihen und zog ein Bilderbuch mit dicken Pappseiten und kyrillischen Buchstaben hervor. Auf dem Titel war ein Junge mit großen Augen zu sehen. Neben ihm sprang ein riesiger, lachender Hecht aus einem See. Offenbar ein russisches Märchen.

Auf der obersten Reihe weckten zwei Bücher mein Interesse. Yakub Kadris Roman, „Der Fremdling“, den ich bereits kannte. Kadri war in Istanbul in der osmanischen, kulturell an Europa orientierten Oberschicht aufgewachsen und im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen. Sein Ich-Erzähler ist wie er Offizier und geht, weil er nicht weiß, wo er bleiben soll, nach der Niederlage des Osmanischen Reichs gegen die Alliierten mit seinem Adjudanten in dessen anatolisches Heimatdorf. Um dort eine ihm völlig fremde Welt vorzufinden. „Wir sind keine Türken, Herr“, steht hinten auf dem Schutzumschlag. „Ja, was seid ihr dann? Wir sind Mohammedaner, Gott sei Lob und Dank.“

Das andere Buch stammte von Lucien Goldmann, einem französischen Literaturwissenschaftler. Als Jude hatte er im Widerstand die deutsche Besatzung Frankreichs überlebt. Ein Buch, dass ich nicht kannte: „Soziologie des Romans“. Ich las ein bisschen in das erste Kapitel hinein, während E. mit dem russischen Märchen in der Hand die nähere Umgebung inspizierte. Goldmanns Buch war in Frankreich 1964 das erste Mal erschienen. Man spürt den damaligen Optimismus bereits auf den ersten Seiten. Die Zukunft war noch offen für Fortschritt und Gerechtigkeit. Auch für einen literaturwissenschaftlichen Fortschritt. Allerdings gäbe es einen Widerstand im Denken zu überwinden, schreibt Goldmann. Einen großen, epochalen, einen wie den, den viele entwickelten, als behauptet wurde, dass die Erde eine Kugel sei und nicht flach, wie es jeder sehen könne. „Was erscheint heute absurder“, wird hinten auf dem Buchdeckel aus dem Text zitiert, „als die Behauptung, dass die wahren Subjekte des kulturellen Schaffens die sozialen Gruppen und nicht die Individuen sind, wo sich doch jeder durch eigene, unmittelbare und scheinbar unbestreitbare Erfahrung davon überzeugen kann, dass jedes literarische, künstlerische oder philosophische Werk von einem Einzelindividuum geschaffen wird.“

Ich ließ den Kadri stehen, nahm den Goldmann mit. Und ging mit E. zum Schwimmen.

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