„Trinken Sie ruhig ihr Bier!“, rief Madame Nielsen quer durch das Café Schaubühne.

Ich schreckte auf, dachte, jetzt werde ich Teil einer Performance. Denn Madame Nielsen ist eine dänische Autorin und Performancekünstlerin.  Sie sieht, ehrlich gesagt, ein bisschen wie ein Gespenst aus. Deswegen hatte ich sie auch gleich erkannt. In ihrem magersüchtigen Gesicht sind die Backen so eingefallen wie aufgeblähte Segel im Wind. Und wenn sie ihre dunklen, tief in den Augenhöhlen liegenden Augen aufreißt, möchte man sich am liebsten unter der nächsten Bettdecke verkriechen. An diesem Abend trug sie einen femininen Hut, den sie damenhaft aufbehalten hatte. Ihre schwarz eingefasst Brille sah dagegen eher männlich aus.

Vielleicht eine Erinnerung an die 1980er Jahre, als Madame Nielsen noch ein Mann war, und unter dem Namen Claus Beck-Nielsen in einer Rockband Bass spielte. Später änderte Claus Beck-Nielsen dann seinen Namen in Helge Bille und arbeitete als Autor und Performancekünstler. In einer Firma namens „Das Beckwerk“ war er ab 2002 als namenloser Mitarbeiter angestellt und musste alle Entscheidungen des Unternehmensvorstands, bestehend aus Künstlern, Schriftstellern, Architekten und einem Richter, ausführen. In seiner bisher letzten Verwandlung änderte Helge Bille dann 2011 seinen Namen auf „Madame Nielsen“. „Ich bin“, soll sie einmal gesagt haben, „viel schöner als Frau, denn als magerer älterer Herr“. In Diskussionen verwehrt sich Madame Nielsen immer gegen jegliche identitäre Zuschreibung.  Selbst die Transgender-Bewegung findet sie lächerlich. Für sie ist das auch nur eine weitere Schublade.

„Ja wirklich“, sagte sie nochmals, „trinken Sie ruhig. Ich würde auch Bier trinken, wenn ich nicht diese Apfelschorle trinken müsste, die mir der Herr neben mir ausgegeben hat. Die ist Bio, bestimmt mit Dinkel.“

Die Vorstellung lief, wir waren außer der Bedienung hinter dem Tresen allein im Café. Im ersten Moment fragte ich mich, an wen sich Madame Nielsen gewandt hatte. Bis mir einfiel, dass hinter mir, in der Ecke am Eingang, ein Mann saß, den ich dort fast jeden Abend sah, wenn ich ins Café Schaubühne ging. Er trug eine dunklen Jacke, die er nie auszog, und trank aus einer Bierdose, die er aus einem Rucksack neben seinem Stuhl zog und danach darin wieder verschwinden ließ. Vielleicht war er obdachlos, vielleicht einfach nur arm und einsam. Das Café tolerierte ihn offenbar, zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, dass niemand etwas bemerkt hatte. Madame Nielsen saß ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite des Cafés auf einer Bank am Fenster. Der Mann neben ihr, das wusste ich, war ein Mitarbeiter der Schaubühne. Er hatte die ganze Zeit auf sie eingeredet.

„Sie sind ein Schauspieler“, sagte der Mann.

„Nein, nein. Sehen Sie dort“, – Madame Nielsen zeigt auf die Lichtkästen mit Bildern der Aufführungen der Schaubühne –, „das sind Schauspieler.“

„Sie sind bestimmt Schauspieler“.

„Nein, ich meine es ernst. Trinken Sie ruhig Ihr Bier.“