Fethard-On-Sea

„Ein komischer Typ“, hatte Mary Kate später gesagt. Wir waren auf der Sandpiste zum Hafen hinuntergelaufen, vorbei an dem halb verfallenen Schuppen der Seenotretter und an dem Haus der Deutschen mit dem begrünten Dach. Ein weißer Subaru fuhr mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbei und verschwand in einer Wolke aus Staub. Als wir dann in dem kleinen Hafen von Fethard-On-Sea ankamen, stand der Wagen auf der Pier. Neben dem Auto, im Hafenbecken, machte ein Mann eines der kleinen Motorboote startklar. Dann fuhr er hinaus aufs Meer.

„Bist du ein Mann oder eine Maus?“, fragte Mary Kate, als wir oben auf der Kaimauer standen, unter uns die aufgewühlte, smaraktgrüne See. Ich zögerte. Ich hatte mich gefragt, ob man hier überhaupt springen konnte oder ob man auf einem der Felsen landen würde, die unter der Wasseroberfläche lauerten. Aber der „komische Typ“ war ja schon vor uns da gewesen, hatte mit seiner schwarze Badehose auf der Kaimauer gestanden und war gesprungen.

Ohne Mary Kate zu antworten ließ ich mich fallen.

Es ist wie am Forty Foot, einem Felsen in der Dubliner Bucht, wo wir im Dezember krebsrote Männer und Frauen in die eiskalte Irische See springen sahen. Für die Iren heißt Schwimmen ins Meer springen, ein paar Züge machen, rausklettern und wieder springen. Mary Kate sagte, dass sie immer springt, nie die Treppe nimmt. „Wenn du springst, dann kannst du nicht groß überlegen, denn in Irland ist das Wasser immer kalt.“

Der Typ war vielleicht Anfang, Mitte Dreißig, hatte einen kräftigen Körper, sah aber nicht wie eine „gym rat“ aus. So heißen hier diejenigen, die jeden Tag für Stunden in einem Fitnesscenter verschwinden. Die dunklen fransigen Haare hatte er zu einem hippen Scheitel über die Stirn gelegt. Er war schnell wieder aus dem Wasser gestiegen. Von unten, vom Meer aus, sah ich ihn zunächst nicht, nur die Kaimauer und den Himmel. Aber dann tauchte er plötzlich wieder auf, wie aus dem Nichts, und flog durch die Luft. Er hatte Anlauf genommen. Mary Kate, die gleich wieder zur Metallleiter zurück geschwommen und aus dem Wasser gestiegen war, sagte später, er hätte nicht mal geguckt, ob er auf jemanden raufspringen würde. Aber ich sah ja, dass nichts passieren würde. Ich sah, wie er sich von der Mauer löste und flog.

Nach etwa einer halben Stunde springen und wieder herausklettern fragte mich Mary Kate: „Und, wie fühlst du dich?“ Ich war um einiges später aus dem Wasser gestiegen als sie; sie war fast schon wieder angezogen. „Gut“, sagte ich. Das salzige, kalte Wasser hatte mich in eine andere Welt katapultiert. Eine unerbittliche Welt, deren Gewalt man schnell spürte. Die langgezogenen Wellen hoben und senkten einen als sei das Nichts. Aber es war eine Gewalt, der man sich ohne großes Risiko hingeben konnte. Trotzdem schien es einem, als hätte man einer Gefahr getrotzt, als wäre man der Gnadenlosigkeit des kalten Meeres entkommen. Bungeespringen light sozusagen. Vielleicht fühlte man sich deshalb so gut, so frei.

A. kam mit E. die Pier hinunter. Zwei Jungen, die aus einem der kleinen in den Hafen eingelaufenen Boote gestiegen waren, hielten ihnen stolz zwei Hummer entgegen. Mit ihren großen Scheren und ihren Beinen ruderten sie in der Luft. Die langsamen Bewegungen und der gepanzerten, lamellenartigen Körper vermittelten den Eindruck, als würden sie aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt stammen.

Dann tauchte der „komische Typ“ wieder auf, trocknete sich ab und begann sich anzuziehen. Mary Kate war schon mit A. und E. losgegangen.

„Kommt ihr aus Dublin“, fragte er. Ich sagte, wir wären aus Deutschland und machten in einem Ferienhaus weiter unten in der Bucht Urlaub. „Und du bist aus Feathard?“ Er zeigte auf die andere Seite der Bucht. Dort drüben, das Haus, das sei seins. Er sei Bauer, Milchbauer. Mit den Händen tat er so, als würde er eine Kuh melken. 450 Kühe. Und nächstes Jahr kämen noch mal 200 dazu. Auf einem anderen Hof. Den hätte er dazu gepachtet.

„War das deine Frau?“, fragte er.

„Nein, dass war die Cousine meiner Frau“, antwortete ich.

Dann erzählte ich, dass ich als Junge auf einem Bauernhof gearbeitet hätte. Vor allem, weil ich Trecker fahren wollte. Aber das sei eine andere Zeit gewesen, damals hätten die Schlepper 35 PS gehabt, heute haben sie 200. „Ich hab einen, der hat 290 PS“, erwiderte er. Dann sagte er noch, dass Irland das beste Land für Milchkühe wäre. Der beste Boden, das Klima, der Regen. Er sei schon überall gewesen, auch in Deutschland und Australien, aber nirgendwo sei es so gut wie hier.

Am Ende, als wir uns verabschiedeten, sagte er: „See you“. Dann stieg er in seinen kleinen Honda, den er am Rand des Hafens abgestellt hatte. Als er an mir vorbeifuhr, hielt er seinen Arm zum Gruß durch das geöffnete Seitenfenster. Der Wind drückte die Staubwolke, die er hinter sich herzog, zur Seite und man sah die völlig verdreckte Heckscheibe, auf der der Scheibenwischer einen Halbmond gezogen hatte. Auch in Irland war der Sommer viel zu heiß und trocken gewesen. Weiter oben, kurz vor der Kurve, blieb der Wagen plötzlich stehen. Vielleicht hatte er eine Nachricht auf sein Handy bekommen. Dann fuhr er weiter und verschwand.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.