Was für ein Wahnsinn

Zwei der Freundinnen meiner Mutter sind schon über neunzig. Tilly ist die älteste, 96 Jahre alt. Ich kenne sie schon seit meiner Kindheit. Auf dem 90zigsten Geburtstag meiner Mutter macht sie immer noch einen fiten Eindruck. Ich frage sie, ob sie noch in dem kleinen Hotel ihres Sohnes arbeitet, das sich in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein befindet. Sie war jeden Tag mit ihrem kleinen Auto die zehn Kilometer von dem Dorf, in dem sie wohnt, dorthin gefahren. Das war der Stand auf dem 85zigsten Geburtstag meiner Mutter. „Ja, klar“, sagt sie. „Gestern morgen hab ich noch Frühstück gemacht und Kartoffeln geschält. Aber er macht jetzt dicht. Er findet einfach kein Personal.“

Ihr Vater hatte ein Baugeschäft, erzählt sie, als ich nach ihrer Herkunft frage, von der ich nur weiß, dass sie in Kiel aufgewachsen ist. „Er hat mit Baggern Erdarbeiten durchgeführt.“ Zum Beispiel die Aushubarbeiten für den Tunnel unter dem Nord-Ostesee-Kanal in Rendsburg. Auch sie hätte damals, wenn es darauf ankam, mitgeschaufelt. Ich weiß, dass sie ihr Leben lang hart gearbeitet hat.

„Vielleicht bist du so alt geworden, weil du immer gearbeitet hast“, sage ich, bereue das aber sofort, weil ich mir überheblich vorkomme, was weiß ich schon. Sie sagt darauf nichts. Zu meiner Mutter hat sie einmal gesagt, das ganze Leben hätte sie gearbeitet, aber ihren Kindern könne sie nichts hinterlassen.

„Dann hast Du ja die Bombennächte in Kiel miterlebt“, sage ich, ich weiß nicht warum. Aber sie erzählt sofort weiter.

„Ja, ich hab viel Glück gehabt im Leben.“ Das Haus, in dem sie mit ihren Eltern gewohnt hat, sei wie durch ein Wunder stehen geblieben. „Links und rechts und gegenüber, alles zerbombt, nur unser Haus blieb stehen. Was für ein Wahnsinn. Und dann die Flucht.“

„Aber wieso die Flucht, bist Du aufs Land verschickt worden?“

„Nein, ich hatte ja noch im Krieg eine Ausbildung zur Kinderpflegerin abgeschlossen. Und meine Eltern haben mich dann nach Kolberg geschickt zu Bekannten, den Dettmers. Die hatten eine große Schlachterei und vier Kinder, auf die sie nicht aufpassen konnten. Das hab ich dann gemacht. Meine Eltern haben gesagt, hier ist Krieg, da ist noch Frieden.“

Dazu muss man wissen, dass Kiel wegen seiner strategisch wichtigen Werften bereits ab 1940 immer wieder bombardiert wurde, während Kolberg, das in Pommern an der Ostsee lag, von der Front noch weit entfernt war. Aber die Stadt wurde am Ende des Krieges von den Nazis zum Symbol des Widerstands hochstilisiert. Der Propagandafilm „Kolberg“ von Veith Harlan mit Heinrich George in der Hauptrolle sollte mit einer heroisch verklärten Geschichte, die während der Belagerung der Stadt durch Napoleon 1807 spielt, den Widerstandsgeist der Deutschen stärken.

„Damals haben die Eltern ja für die jungen Frauen eine Aussteuer zusammengestellt“, erzählt Tilly weiter, „mit Wäsche, Silber, Tischdecken und so, für die Hochzeit. Meine Mutter hat das alles nach Kolberg geschickt, denn in Kiel war ja Krieg, in Kolberg Frieden. Was für ein Wahnsinn. Und jetzt in der Ukraine. Warum kämpfen die? Ob es nun Goebbels ist oder Putin, ist doch egal. Aber all das Leid, die Toten.“

Ich schlucke, aber irgendwie frage ich mich auch ständig, ob die Rückeroberung von Land die Zerstörungen und die Toten wert ist.

„Ja, und dann kam der Krieg, und Kolberg wurde zur Festung erklärt. Frau Dettmer, die wollte nichts aufgeben, die hat ihr ganzes Silber eingepackt, während ich alles dalassen musste. Ich war ja für die Kinder verantwortlich. Herr Krüger, der im Haus wohnte, und mit auf die Flucht kam, der hat immer wieder zu ihr gesagt: „Lassen sie das da.“ Der hat gesagt, das Wichtigste seien die Essensmarken, die kann man immer eintauschen. Die müsste man mitnehmen. Essensmarken und Lebensmittel. Und so haben wir dann noch ein paar Würste mitgenommen. Aber die Frau hat sich nicht davon abbringen lassen, die hat alles eingepackt.“

Die Flucht ging über die Ostsee. „Das war ein kleines Boot, völlig überfüllt. Du bist von den Wellen hin und her geschüttelt worden. Ich hab vor dem Maschinenraum gesessen, der Gestank und der Lärm vom Motor! Ich saß da, auf jedem Bein einen Zwilling. »Mir ist so schlecht«, haben die immer nur gesagt. Und alles war voll. Ich habe die ganze Zeit gebetet, lieber Gott, lass uns auf eine Mine laufen, das geht schnell, dann ist das hier endlich vorbei.“

Aber sie hätten es geschafft. In Swinemünde seien sie ausgeschifft worden. Herrn Dettmer hätten sie noch mal nach Kolberg zurückgeschickt. Er sollte dort mithelfen, 250 Schweine zu schlachten. Was für ein Wahnsinn. Der ist da von einer Granate verletzt worden. Und denk nur, was für ein Zufall. In dem ganzen Chaos trifft der Krüger ein paar Tage später den Dettmer am Hafen wieder. Was für ein Wahnsinn.“

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