Autor: Fokke Joel (Seite 1 von 12)

Der Garten des Theophrast

Am Ende sagte E. zu mir, man könnte die letzte Zeile vielleicht auch so wie ich lesen. Wir hatten das berühmte Gedicht „Der Garten des Theophrast“ von Peter Huchel diskutiert:

DER GARTEN DES THEOPHRAST

Meinem Sohn

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.

Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub“ bezog sich für mich auf die Widmung, „Meinem Sohn“. Die anderen meinten, dass mit „schutzloses Laub“ die Blätter des Ölbaums gemeint seien. Aber, fragte ich, für was steht dann der Ölbaum?

Das alles ist schon ewig her, die Mauer stand noch und die DDR. E. hatte in Ostberlin eine große Wohnung in dem Haus Ecke Heinrich-Roller-/ Greifswalder Straße. Wir, eine Handvoll Germanistik Studenten und Studentinnen aus Westberlin, trafen uns dort alle zwei Monate mit Studenten und Studentinnen der Humboldt Universität. Organisiert hatte E. die Treffen mit einer ehemaligen Kommilitonin, die inzwischen im Westen lebte. Sie studierte mit uns an der FU und fragte in dem Seminar „Lyrik in der DDR“, das auch ich besuchte, ob wir nicht an einem Treffen mit Studenten aus Ostberlin Interesse hätten. Sie hatte Glück gehabt, weil sie nach der Verlobung mit einem Mann aus dem Westen aus „privaten“ und nicht aus „politischen“ Gründen ausreisen durfte und deshalb wie wir ein Tagesvisum für Ostberlin bekam.

„Der Garten des Theophrast“ war das erste Mal 1963 in Sinn und Form erschienen. Peter Huchel war seit der Gründung der Zeitschrift 1949 ihr Chefredakteur gewesen und es war die letzte Ausgabe, die er verantwortete. Die SED-Kulturpolitiker wollten ihm einen zweiten, gleichberechtigten Chefredakteur zur Seite stellen, eine Art Aufpasser, der die Zeitschrift wieder auf Parteikurs bringen sollte. Huchel musste schon vorher immer wieder mit der Parteiführung um die Literaturzeitschrift kämpfen, die unter seiner Ägide als die beste im deutschsprachigen Raum galt. Nun war seine Geduld am Ende: Wutentbrannt kündigte er. Es war ein Tiefpunkt seines Lebens in der DDR. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Huchel wurde in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam isoliert und jeder Besuch von der Stasi überwacht. Freunde aus dem Westen bekamen keine Visa mehr und als er 1968 das Rentenalter erreicht hatte, verweigert die DDR-Führung ihm sowohl eine Rente als auch die Ausreise aus der DDR – beides Dinge, die ihm eigentlich gesetzlich zustanden. Erst auf internationalen Druck konnte er 1971 in den Westen ausreisen, wo er, der an der Brandenburgischen Landschaft seiner Kindheit hing, nie mehr ganz heimisch wurde.

„Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer / Und ist noch Stimme im heißen Staub“ – vielleicht, fällt mir heute als Argument ein, sind mit dem Ölbaum die Nachgeborenen gemeint, zu denen auch Huchels Sohn gehörte. Denn die Zeile „die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt“ spielt auf das Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht an. Nur dass es bei Brecht umgekehrt ist und die Gespräche nicht wie Bäume gepflanzt werden, sondern das Gespräch über sie angesichts der Katastrophe des Faschismus als Verbrechen erscheint. Vielleicht stand der Ölbaum für die Jugend und die Hoffnung, die dann in den letzten beiden Zeilen wieder in Frage gestellt werden: „Sie befahlen die Wurzeln zu roden. / Es sinkt dein Licht schutzloses Laub“. Die persönliche Anrede „dein“, dessen „Licht sinkt“, deutet ja ebenfalls auf eine Person hin.

Wie gesagt, unsere Ost-West-Treffen sind lange her. Ich kann mich nur noch dunkel an sie erinnern. Die Frage, ob biografische Bezüge bei der Interpretation von Gedichten statthaft sind oder ob man Gedichte immanent deuten sollte, wurde damals viel diskutiert. Der Germanist Alfred Kelletat zum Beispiel, einer der frühen westdeutschen Huchel-Interpreten, kritisiert seinen englischen Kollegen Peter Hutchinson, der das Gedicht als Reaktion auf Huchels faktischen Rausschmiss bei Sinn und Form interpretiert hatte. Wäre das so, meinte Kelletat, stelle sich die Frage, „ob der Dichter nicht klüger daran getan hätte, einen kulturpolitischen Leitartikel zu verfassen oder sonst seine Meinung deutlicher kundzutun“. Genau das aber konnte Huchel nicht, denn er wusste, dass das die DDR-Führung noch mehr verärgert hätte und die Strafe gegen ihn noch drakonischer ausgefallen wäre. Andererseits ist Kelletats Analyse der formalen Strukturen des Gedichts und der Bezüge zu Theophrast, dem Philosophen und Naturwissenschaftler aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., ebenfalls überzeugend.

„Der Garten des Theophrast“ erinnert mich heute aber noch aus einem anderen Grund an unsere damaligen Treffen. Denn bei Theophrast, der ein Schüler von Aristoteles war, ging es ebenfalls um das Gespräch. Dazu traf er sich mit seinen Schülern in seinem Garten. Führten wir nicht genauso ein Gespräch um der Erkenntnis willen? Die Urnen, auf denen das „weiße Feuer der Verse“ tanzt, erinnern mich an die Friedhöfe, die den Eckhausblock, in dem E. wohnte, umgaben. Auf der Seite der Greifswalder Straße, auf dem Friedhof der Georgen-Parochial-Gemeinde, wurde nicht mehr bestattet; er war seit Jahrzehnten nicht gepflegt worden. Wilde Katzen lebten zwischen Gräbern und Mausoleen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Viele waren eingestürzt und von Sträuchern und Bäumen überwachsen. Die wild wuchernde Vegetation hatte die Wege zu schmalen Pfaden verengt, aber man konnte auf ihnen zwischen den verrosteten schmiedeeisernen Zäunen, die viele Gräber umgaben, spazieren gehen. Für mich hatte der Friedhof etwas von einem verwilderten Garten, und jedes Mal, bevor wir uns bei E. trafen, ging ich dorthin. Und hatte nicht auch der Garten des Theophrast etwas von einem Friedhof, weil er der Legende nach dort begraben wurde?

Nach der Wende wurde der Friedhofswald gerodet. Die schmiedeeisernen Zäune wurden entrostet und gestrichen und alles aufgeräumt, wie die ganze Stadt, im Westen wie im Osten. Klar, ich habe den Friedhof mit dem romantisierenden Wessi-Blick wahrgenommen. Während der DDR-Zeit gab es einfach kein Geld, um ihn in Schuss zu halten. Aber heute erinnert nichts mehr an die anarchische Freiheit der Katzen und Pflanzen. „Gedenke mein Sohn, gedenke derer / die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt“. Nur Huchels Gedicht erinnert mich – und vielleicht nur mich – noch daran.

Heute kochen auch die Männer den Kaffee

Bei der Suche nach einem neuen Buch, das ich E. vorlesen könnte, stieß ich auf Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Ein Kinderbuch, dass selbst Hugendubel vorrätig hatte, wo sonst die Kids mit zuckrig bemalten Buchdeckeln am Sehnerv über den Verkaufstisch gezogen werden. Ein Kinderbuchklassiker, den ich selbst noch nicht gelesen hatte – es wurde eine verwirrende Lektüre.

Für die, die das Buch wie ich noch nicht gelesen haben: Emil Tischbein, einem zwölfjährigen Jungen, werden auf der Zugfahrt nach Berlin 140 Mark aus seinem Jackett gestohlen. Das Geld hatte seine Mutter mühselig zusammengespart und war für die Berliner Großmutter bestimmt. Es musste Emil, als er eingeschlafen war, von dem Mann gestohlen worden sein, der zuletzt allein mit ihm im Abteil gesessen hatte. Als er aufwachte, war der Mann verschwunden. Doch Emil gelingt es, den Täter im Bahnhof Zoo in der Menge zu erkennen und zu verfolgen. Am Nollendorfplatz, wo der Dieb in einem Hotel absteigt, trifft er auf Gustav, einem Jungen mit einer Hupe, die dann dazu dient, Freunde aus den Hinterhöfen der Umgebung zusammenzurufen. Gemeinsam können die Jungen den Dieb beobachten und am Ende dingfest machen. Emil bekommt die 140 Mark zurück und wird zusammen mit seinen neuen Freunden von der Berliner Presse als Held gefeiert.

So weit, so spannend. Dass der Text die Zeit ganz gut überstanden hat, ließ sich daran ablesen, dass E. zuhörte und mit der Geschichte mitging. Ich war es, der Probleme mit der Lektüre hatte. Die spontane Verbrüderung der Jungen um Emil irritierte mich, ja, um ehrlich zu sein, erschrak ich ein wenig. Diese Selbstverständlichkeit, mit der sich die einen „für die Sache“ unterordnen und die anderen sagen, wo es langgeht. Zwar murrt zum Beispiel der Kleine Dienstag, weil er nicht mit den anderen den Dieb beobachten darf, sondern nur zu Hause am Telefon sitzen und die Aktion koordinieren muss; aber am Ende nimmt auch er seinen Platz ein. Kameraden eben, jeder weiß, wo er zu stehen hat und was er tun muss.

Dass mich das alles so irritierte, lag auch an „Kästner und der kleine Dienstag“ von Wolfgang Murnberger, einem sehenswerten Fernsehfilm, den ich vor einiger Zeit gesehen hatte. Darin geht es um die Freundschaft zwischen Erich Kästner und Hans-Albrecht Löhr, einem Jungen, der 1929, gleich nach dem Erscheinen von „Emil und die Detektive“, dem berühmten Autor begeistert geschrieben hatte. Er besuchte ihn sogar und Kästner war von dem Jungen so beeindruckt, dass eine Freundschaft zwischen beiden entstand und Löhr nicht nur in dem Theaterstück, das 1930 im Theater am Schiffbauerdamm aufgeführt wurde, sondern auch in dem Film von 1931 die Rolle des Kleinen Dienstag spielen durfte. Im Abspann von „Kästner und der kleine Dienstag“ steht, und das war es, woran ich beim Vorlesen von „Emil und die Detektive“ dachte, dass bis auf zwei der Kinderschauspieler alle, auch Hans-Albrecht Löhr, im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Wehrmacht getötet wurden.

Dorothee Schön, von der das Drehbuch zu „Kästner und der kleine Dienstag“ stammt, hat auf ihrer Website Einzelheiten zum Tod von Löhr veröffentlicht. In einem Brief, den einer seiner Kameraden an die Mutter von Löhr schrieb, schildert er dessen Tod: „Hans-Albrecht bekam eine Spähtruppaufgabe am 22. August, die er gut löste, es war schwierig, denn selten ist dort ein Spähtrupp hingekommen. Es war bei Schrenac (?), einem kleinen, von Russen besetzten Ort. Diesen Ort hatte er zu umgehen. Es gelang alles und auf dem Rückweg hatte der verdammte Russe abgeriegelt. Aus allen Rohren schoß er – Hans-Albrecht zog ganz fabelhaft seinen Spähtrupp zurück und er selbst sicherte für seine Kameraden den Rückweg. Als er nun folgte, wurde er durch einen Leberschuss tödlich getroffen. Er hatte einen angenehmen schnellen Tod, vor allem aber hat er seinen Kameraden damit das Leben gerettet, eben durch seine vorbildliche Haltung.“

Es ist gespenstisch: Der Kamerad erzählt von den Umständen, bei denen Hans-Albrecht Löhr getötet wurde, fast so wie Kästner die Geschichte von „Emil und die Detektive“, nur das Löhr jetzt nicht mehr der Kleine Dienstag ist und in der Etappe am Telefon den Einsatz koordiniert, sondern – inzwischen zwanzigjährig – ein Spähtruppführer in der Rolle des „Professors“, der in „Emil und die Detektive“ meistens die Kommandos gibt. Ein Spähtruppführer, der sich am Ende dann beim Rückzug vorbildlich für seine Kameraden opfert. Nur ging es in dem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion nicht um die Beseitigung eines Unrechts, sondern darum, ein Unrecht zu begehen, nämlich ein Land zu verwüsten und seine Bewohner zu töten.

Dorothee Schön, die 2008 noch mit der 88jährigen Schwester von Hans-Albrecht Löhr sprechen konnte, vermutet: „Der Brief des Kameraden scheint vor allem die Mutter trösten und den Menschen in der Heimat das Gefühl geben zu wollen, dass dieses Sterben nicht sinnlos sei. Viel Wahres steckt wahrscheinlich nicht darin, denn Hans-Albrechts Schwester Ruth Finkenstädt erinnerte sich in unserem Gespräch, dass „das Jungchen“ – kaum in Russland angekommen – einen ganz schnellen und sinnlosen Tod gestorben sei. Einen Spähtrupp hat Hans-Albrecht dabei wohl eher nicht geführt.“

Als im Januar 1936 „Emil und die Detektive“ in der Verlagsauslieferung beschlagnahmt wird, versucht Kästner, wie Tobias Lehmkuhl in „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“ schreibt, sich und sein Buch mit einem Brief an das Propagandaministerium zu retten. Die Beschlagnahmung würde ihn besonders schmerzen, schreibt er, „weil sie ein Buch trifft, das wohl von den meisten Deutschen, so sie es gelesen haben, als ein ausgesprochen deutsches Buch angesehen wird“. Mit Hinweis auf die zahlreichen Übersetzungen von „Emil und die Detektive“, meint er, das es „den Kindern anderer Länder eine Vorstellung vom Kameradschaftsgeist und dem Familiensinn des deutschen Kindes“ gibt.

„Aber das Buch ist doch Ausdruck der Solidarität, des Kampfes David gegen Goliath“, hatte ein Freund aufgebracht gesagt, als ich ihm von meinen Irritationen und den Recherchen erzählte. Es stimmt, im Grunde erzählt Kästner in „Emil und die Detektive“ ja von einer Utopie: Dass die Machtlosen, die Kinder, zusammen und wenn jeder seinen Platz einnimmt, die Macht haben, gegen einen Erwachsenen zu gewinnen. Kästner ist ja auch Pazifist und Gegner der Nazis gewesen, seine Bücher wurden 1933 auf dem heutigen Bebelplatz neben der Staatsoper verbrannt. Aber „Emil und die Detektive“ war das einzige Buch von Kästner, das unter seinem Namen noch nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland verlegt werden durfte. Ende 1935 war dann auch damit Schluss.

Kästner konnte danach allerdings entgegen seinen Nachkriegsbehauptungen weiter unter Pseudonym Unterhaltungsromane schreiben, die im Ausland verlegt und nach Deutschland importiert wurden. Als das ab Anfang 1936 nicht mehr ging, blieben ihm die Drehbücher, die er in Kooperation mit anderen und unter Pseudonym für die UfA schrieb. Für das Drehbuch von „Münchhausen“, einem Monumentalfilm mit Hans Albers, bekam er 115.000 Reichsmark, was der heutigen Kaufkraft von über 500.000 Euro entspricht. Von dem Geld konnte er nach seinem totalen Veröffentlichungsverbot 1943 gut bis zum Kriegsende leben.

Einen Tag, nachdem ich E. den Roman fertig vorgelesen hatte, dann eine neue „Emil und die Detektive“-Irritation. Wie in einem feministischen Lehrbuch sagte E. plötzlich: „Frauen kochen doch den Kaffee und schmieren die Brötchen, oder?“ Das war die Rolle von Pony Hütchen, der Cousine von Emil aus Berlin. Eine Nebenfigur, mit der man sich als Mädchen auch heute noch gut identifizieren kann, denn sie ist streitlustig und selbstbewusst. Aber wie die Jungen fügt auch sie sich emphatisch in ihre Rolle und bringt bei der konzertierten Aktion der Jungen das Frühstück. Immerhin formulierte E. ihren Eindruck als Frage, offenbar schien es für sie einen Widerspruch zwischen dem Buch und ihrer heutigen Wirklichkeit zu geben.

Dann, ein paar Tage später fiel mir ein, dass ich der Grund war, warum sie das fragte. Ich hatte mich schon während des Vorlesens über die Rolle von Pony Hütchen aufgeregt und gesagt: „Na klar, die Frauen kochen den Kaffee und schmieren die Brötchen.“ E. hatte die Ironie in meiner Stimme nicht verstanden. Das hatte ich im ersten Moment völlig vergessen. Aber ich glaube, sie verstand es, als ich zu ihr sagte, ja, es gab Zeiten, da hat man das so gesehen. Aber das Buch ist alt, fast hundert Jahre, heute ist das nicht mehr so. Heute kochen auch die Männer den Kaffee.

Der Film

Auf einer Geburtstagsfete komme ich mit F. ins Gespräch, der seine langen grauen Haare hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Wir stehen in der Küchentür, und ich frage ihn, wie er die Gastgeberin kennengelernt hat, was er macht, eben Fragen, mit denen man ins Gespräch kommt. Er erzählt, dass er die Computer in der Geschäftsstelle einer sozialen Einrichtung betreut. Später sagt er, dass er sich dort „aufgehoben“ fühlt.

Ich weiß nicht mehr, warum, aber er erzählte, dass er sich sofort nach dem Fall der Mauer eine Wohnung in Westberlin gesucht hat. „Ich hatte Angst, die machen die Mauer ganz schnell wieder dicht“.

Ohne groß darüber nachzudenken frage ich: „Und, trauerst du der DDR nach?“ Er sieht mich lange an und schweigt, bevor er sagt: „Was erwartest du denn, was ich sage?“ Ich bin irritiert, weiß nicht, wie er das meint, und antworte ebenfalls nicht. Als D. dazukommt, ein Freund, der ebenfalls in der DDR groß geworden ist, wende ich mich Hilfe suchend an ihn. „Und, trauerst du der DDR nach?“ D. lacht und sagt auch nichts. F. sieht mich immer noch mit starrem Blick an und fragt nochmals: „Na, was erwartest du, was ich sage?“. D. springt mir zur Seite: „Ich glaube, Fokke will nur wissen, was du darüber denkst.“

F. beantwortete meine Frage nicht. Und auch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, das Gefühl, erwischt worden zu sein. Glaubte er, dass ich ihn als DDR-Nostalgiker enttarnen wollte? Oder meinte er, dass ich erwartet hätte, dass er sagt, nein, er trauere der DDR mit keiner Träne nach.

Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, mich mit ihm zu unterhalten. Aber ich wechselte das Thema und wir unterhielten uns über Computer. Ich schimpfte über Windows, er stimmte mir zu: Zu Hause würde er auch Apple benutzen. Letztens aber hätte er auch mit seinem Apple das Problem gehabt, einen Film auf seinem Fernseher abzuspielen. Das Format passte nicht. Er holte sein Handy aus der Tasche und wischte suchend über den Bildschirm. Dann hielt er es mir hin. Ein kurzer, wenige Sekunden langer Film war zu sehen. Ein Junge, der auf einen Felsen gestiegen war und das Gleichgewicht zu halten versuchte. Der Bilder ruckelten wie in einem alten Stummfilm. „Das bin ich“, sagte er. Das seien Aufnahmen aus der Tschechoslowakei, die sein Vater gemacht hätte. „Der hatte damals schon so eine Kamera.“ Die alten Filme wären ziemlich marode gewesen. Die Perforierung sei ständig gerissen. Der Projektor verklebt. Damit man überhaupt was sehen konnte, hätte er den Film verlangsamt.

Nachbarn

Im Erdgeschoss im Nachbarhaus standen zur Straße hin die Fenster offen. Im Innern war es dunkel, aber man konnte einen Spiegel mit einer Holzeinfassung im Stil des 19. Jahrhunderts erkennen. Im rechten Zimmer stand ein großes Ehebett und eine weiße Kommode, von der die Schubladen aufgezogen waren. Durch den schmalen Durchgang zum Hof trugen zwei Männer mühsam einen riesigen weißen Kunstledersessel auf die Straße, der dort noch zwei Tage später neben einem der Straßenbäume stand. In zweiter Reihe auf der Straße parkte ein kleiner Lieferwagen mit offenen Hecktüren.

Zum Laubhüttenfest hatten sie Ende September im Hof noch mit Dachlatten eine symbolische Hütte aufgebaut. Das Dach bestand aus vereinzelten Tannenzweigen, durch die ich von oben, von unserem schmalen Badfenster aus, hindurchsehen konnte. An der Stirnwand hing ein großes Porträt von Menachem Mendel Schneerson, der mit seinem langen weißen Bart und seinem schwarzen Hut freundlich lächelnd in die Kamera blickt. Manche der Chabad Lubawitscher, lese ich, halten ihn für den Messias, obwohl er selbst das nie geglaubt hat und die Bewegung das offiziell auch nicht so sieht. In Mykolajiw 1902 geboren, war er vor den Deutschen über Frankreich in die USA geflohen und in New York 1994 gestorben.

Anfang Oktober saßen dann rund ein Dutzend Männer und Frauen in der symbolischen Laubhütte und feierten. Eine Lichterkette beleuchtete den langen Tisch, auf dem Glasvasen mit Blumen standen. Einmal brüllte eine Frau aus einem der zahlreichen Fenster unseres großen Hinterhofs „Ruhe“. Tagsüber, wenn ich mit meinem Fahrrad vom Hof fuhr, stand die Hütte leer. Dann war sie wieder verschwunden.

Von der Familie, die in der Erdgeschosswohnung im Nachbarhaus wohnte, habe ich nur wenig mitbekommen. Meistens waren die Rollläden an den Fenstern zur Straße heruntergelassen. Am auffälligsten war der grüne Elektroroller, der immer auf dem Bürgersteig vor der Wohnung stand. Und der kleine junge Mann, der in seinem schwarzen Anzug und schwarzen Hut mit dem Roller in die Westfälische einbog und zur Münsterschen Straße fuhr. Dort war letzten Sommer gerade neben der Synagoge ein Neubau für ein Bildungszentrum der Chabad Lubawitscher fertig geworden. Die Betonpoller, die Sicherheitsschleuse und der hohe Metallzaun erinnern mich immer an ein Gefängnis. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeifahre, denke ich, dass die Sicherheitsmaßnahmen im Grunde eine Niederlage der deutschen Gesellschaft sind. Nach antisemitischen Unruhen in Prag hat Franz Kafka einmal in einem Brief an Milena Jesenska geschrieben: „Eine widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben“. Inzwischen hat die Gemeinde die Betonmauer neben dem Eingang bunt bemalt. „Wir sind ein offenes Haus“, hatte Rabbiner Yehuda Teichtal bei der Eröffnung letztes Jahr gesagt. „Alle Menschen sind bei uns willkommen, Juden, Christen, Muslime, Menschen ohne religiösen Hintergrund“.

Manchmal sah ich den Mann mit seiner Frau und einem Kinderwagen auf der Straße. Und einmal waren an einem Sommerabend, als ich an der Wohnung vorbeiging, die Fenster geöffnet, und ein Mann, der auf einem Fensterbrett saß, fragte mich auf Englisch nach der Uhrzeit. Ich war ein bisschen verwirrt über die Frage. Später fiel mir ein, dass Freitag war und am Freitag, bei Sonnenuntergang, der Schabat beginnt.

Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag genau, aber an einem der Tage nach dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas in Israel, standen mehrere Männer auf dem Bürgersteig vor der Wohnung und diskutierten. Einer von Ihnen war der junge Vater mit dem schwarzen Hut.

Der Schornstein

Die ganze Nacht hatte es geregnet. Die Stadt roch nach Feuchtigkeit, die als dünner Film auf allem lag. Der Asphalt glänzte tiefschwarz, hellbraun gesprenkelt von den Blättern, die der verspätete Herbst überall verteilt hatte. Die Straßen waren leer, nur hier und da ein Frühaufsteher oder ein Heimkehrer, der die Nacht durchgemacht hatte. E. und ich fuhren am leeren Pförtnerhäuschen vorbei auf den Hof der Schlossparkklinik. Ich auf dem Rad, E. im Anhänger.

Wir waren zu früh an diesem Sonntagmorgen; der Schwimmkurs sollte erst in einer halben Stunde im Reha-Schwimmbad beginnen. Ich schloss das Rad vor einem Quergebäudes der Klinik an und ließ E. aus dem Anhänger. Dann trat ich einen Schritt zurück und sah mich um. Über dem Dach eines weiteren, älteren Gebäudes, das eine schmale Straße weiter hinunter stand, ragte ein hoher Schornstein. Wozu mochte er gehören? Vielleicht zum älteren Teil des Krankenhauses, dass es schon im 19. Jahrhundert gegeben hatte? Direkt neben dem Quergebäude befand sich ein weiteres Haus aus gelben Klinkern, das wohl aus den 1980er Jahren stammte. Es war nicht ganz klar, ob es ebenfalls zum Krankenhaus gehörte, denn die Fassade war übersät mit kleinen Balkonen. Vielleicht ein Appartementhaus? Doch die Wohnungen schienen leer zu stehen. Nur auf zwei der vielen Klingeln neben der Eingangstür, die E. und ich uns ansahen, standen Namen; auf allen anderen eine Nummer.

Die Stille, die alles umgab, hatte zwei Seiten. Einerseits war sie beruhigend, so, als würde die Zeit stillstehen und mit ihr alle Probleme ruhen. Andererseits war die Leere, die uns umgab, gleichzeitig die Abwesenheit von Leben. Vielleicht spürte auch E. das, denn sie blieb stehen. Sie zweifelte daran, ob man die Straße, die über das Gelände führte, weitergehen dürfe. Ich redete beruhigend auf sie ein und ging weiter. Nach kurzem Zögern folgte sie mir, und hinter einer weiteren Gebäudeecke, zwischen Bäumen, tauchte ein offenbar stillgelegtes Kesselhaus auf, zu dem der hohe Schornstein gehörte. Es schien schon lange leer zu stehen. Auf dem kleinen Platz davor stand eine gelbe Telefonzelle. Ein altes Modell aus Metall, keines mit runden Kanten und gelbem Plastik überzogenes der späten Bundespost, auch keine lila-graue Zelle der letzten, der Telekom-Generation. Wie aus der Zeit gefallen stand sie da und als ich die Tür öffnete, erkannte ich sofort das typische, wie aus einer fernen Vergangenheit kommende metallische Knarren und Klacken.

Es war eine Bücherzelle. An der Rückwand, auf einem Regal, standen Bücher, die sich einmal gut verkauft hatten. Manchmal fand man zwischen den alten Bestsellern etwas, und ich konnte nie an einer solchen Zelle vorbeigehen ohne hineinzusehen. E. begutachtete die unteren Reihen und zog ein Bilderbuch mit dicken Pappseiten und kyrillischen Buchstaben hervor. Auf dem Titel war ein Junge mit großen Augen zu sehen. Neben ihm sprang ein riesiger, lachender Hecht aus einem See. Offenbar ein russisches Märchen.

Auf der obersten Reihe weckten zwei Bücher mein Interesse. Yakub Kadris Roman, „Der Fremdling“, den ich bereits kannte. Kadri war in Istanbul in der osmanischen, kulturell an Europa orientierten Oberschicht aufgewachsen und im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen. Sein Ich-Erzähler ist wie er Offizier und geht, weil er nicht weiß, wo er bleiben soll, nach der Niederlage des Osmanischen Reichs gegen die Alliierten mit seinem Adjudanten in dessen anatolisches Heimatdorf. Um dort eine ihm völlig fremde Welt vorzufinden. „Wir sind keine Türken, Herr“, steht hinten auf dem Schutzumschlag. „Ja, was seid ihr dann? Wir sind Mohammedaner, Gott sei Lob und Dank.“

Das andere Buch stammte von Lucien Goldmann, einem französischen Literaturwissenschaftler. Als Jude hatte er im Widerstand die deutsche Besatzung Frankreichs überlebt. Ein Buch, dass ich nicht kannte: „Soziologie des Romans“. Ich las ein bisschen in das erste Kapitel hinein, während E. mit dem russischen Märchen in der Hand die nähere Umgebung inspizierte. Goldmanns Buch war in Frankreich 1964 das erste Mal erschienen. Man spürt den damaligen Optimismus bereits auf den ersten Seiten. Die Zukunft war noch offen für Fortschritt und Gerechtigkeit. Auch für einen literaturwissenschaftlichen Fortschritt. Allerdings gäbe es einen Widerstand im Denken zu überwinden, schreibt Goldmann. Einen großen, epochalen, einen wie den, den viele entwickelten, als behauptet wurde, dass die Erde eine Kugel sei und nicht flach, wie es jeder sehen könne. „Was erscheint heute absurder“, wird hinten auf dem Buchdeckel aus dem Text zitiert, „als die Behauptung, dass die wahren Subjekte des kulturellen Schaffens die sozialen Gruppen und nicht die Individuen sind, wo sich doch jeder durch eigene, unmittelbare und scheinbar unbestreitbare Erfahrung davon überzeugen kann, dass jedes literarische, künstlerische oder philosophische Werk von einem Einzelindividuum geschaffen wird.“

Ich ließ den Kadri stehen, nahm den Goldmann mit. Und ging mit E. zum Schwimmen.

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