Monat: Mai 2021

Wir

Von der Berliner Autorin Irina Liebmann gibt es ein lesenswertes Buch über ihren Vater: „Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolph Herrnstadt“. Herrnstadt war Kommunist, aber bis in die 1930er Jahre hinein einer der wichtigsten Autoren von Theodor Wolfs bürglichem „Berliner Tageblatt“. Nebenbei arbeitete er für den Geheimdienst der Roten Armee, floh aus Nazideutschland erst nach Warschau, dann nach Moskau, kehrte im Mai 1945 zurück und gründete in der sowjetischen Besatzungszone die „Berliner Zeitung“ und das „Neue Deutschland“, dessen Chefredakteur er bis 1953, bis zu seinem Rausschmiss aus der SED war. Es ist ein eindrucksvolles Buch, in dem Liebmann ihren Vater und die teilweise haarsträubenden Widersprüche zu erklären versucht, mit denen er gelebt hat. Obwohl ihn die Partei und die Genossen immer wieder enttäuschten, ja verrieten, und seine Versuche für mehr Realismus und Demokratie in der Partei unterminierten, blieb er bis zu seinem Tod Kommunist.

Bei der Lektüre der politischen Texte Herrnstadts fällt Liebmann die unterschiedliche Verwendung der Personalpronomen „ich“ und „wir“ auf. „Wer »ich« sagt, redet von seiner Schwäche“, schreibt sie. „Das fällt mir auf einmal sehr auf. Wer »wir« sagt, der will um keinen Preis schwach sein, denn wer schwach ist, verliert, und dann wird er getötet – das ist vor allem die Erfahrung der Kommunisten, und überwintert und erlitten ist etwas anderes als verfolgt und getötet.“ Damit ist auch die Verfolgung unter dem Stalinismus gemeint. Denn die meisten Opfer Stalins, das wird oft vergessen, waren überzeugte Kommunisten.

Als ich diese Stelle las, fiel mir ein ganz anderer Text ein, Saša Stanišić „Vor dem Fest“. In diesem Roman des 1992 mit seiner Familie aus Bosnien nach Deutschland geflohenen Autors taucht schon am Anfang ein „Wir“-Erzähler auf. Ein ungewöhnlicher Fall, denn nur selten ist in der Literatur der Gegenwart ein solcher Kollektiverzähler zu finden. „WIR SIND TRAURIG“, heißt der erste Satz. „Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot.“ Ein „Wir“, das mich sofort in den Text gezogen hatte, so, als würde ich Teil des in dem Roman beschriebenen fiktiven uckermärkischen Dorfes mit seinem Stasioffizier, der sich umbringen will, seinen tumben Neonazis, seinen mystischen Frauen und Heimatforschern. Ein „Wir“, das in eingeschobenen Kapiteln immer wieder aufgenommen wird und den eigentümlichen Ton des Romans ausmacht, auch wenn viele Kapitel von einem allwissenden oder – in anderen – von einem personalen Erzähler bestimmt werden. Es ist ein versöhnlicher Roman, auf den die deutsche Gesellschaft offenbar gewartet hat, denn „Vor dem Fest“ wurde zum Bestseller. Maxim Biller hat dem Roman vorgeworfen, im Gegensatz zu Stanicic Erstling „Wohlfühlliteratur“ zu sein. Für ihn ist der Roman Beispiel einer migrantischen „Onkel-Tom-Literatur“, einer Literatur, die ihre eigene Stimme aufgegeben und sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft angepasst hat.

Die sichtbare Geschichte

Letztes Jahr, am Anfang der Pandemie, zweifelte eine Freundin an der Existenz von Corona. Als Argument führte sie ein Youtube-Video an, in dem jemand das Blut „einer Ziege an die WHO schickt und die das dann positiv getestet hat“.

Aber nicht nur zur gegenwärtigen Pandemie verbreitet das Video-Portal von Google Lügen und Falschmeldungen. Auch von Rechtsradikalen wird Youtube gerne dazu genutzt, um die Geschichte in ihrem Sinne umzuschreiben. Im Zusammenhang mit der Recherche zu Przemysl war ich dort auf einen Film von Stuart Russell gestoßen, dem Schwiegervater von Andreas Kalbitz. Der inzwischen aus der AfD ausgeschlossene Rechtsradikale wird im Abspann der Dokumentation „Von Garmisch bis in den Kaukasus. Die Geschichte der 1. Gebirgsjägerdivision 1941 -1942“ als Drehbuchautor aufgeführt. Zu Wort kommen darin ehemalige Offiziere der Division sowie der „international renommierte Historiker und Universitätsdozent“ Dr. Heinz Magenheimer, ein österreichischen Militärhistoriker, der seit den 1990er Jahren zum Überfall auf die Sowjetunion 1941 die wissenschaftlich widerlegte „Präventivschlagthese“ vertritt. Demnach war Hitler gezwungen, in die Sowjetunion einzumarschieren, weil Stalin kurz davor stand, Westeuropa zu erobern. In Russells Film, der 2009 erschienen ist, spricht Magenheimer zwar nicht mehr von einem Präventivkrieg, sondern von einem „Entscheidungskampf“, was aber nichts daran ändert, dass er den Überfall auf die Sowjetunion wegen der angeblichen Angriffspläne Stalins als unvermeidbar ansieht.

Damit kein schlechtes Licht auf die Division fällt, endet Russells Geschichte der Gebirgsjäger mit dem Rückzug aus dem Kaukasus 1942. So muss der Film die danach verübten Kriegsverbrechen der „Edelweißdivision“ nicht erwähnen. Soldaten der Gebirgsjäger hatten in der zweiten Hälfte des 2. Weltkriegs in Albanien, Griechenland und Jugoslawien Tausende Kriegsgefangene sowie Frauen, Kinder und Alte ermordet. Nach dem Krieg, in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse, wurde ihr Kommandant, General Hubert Lanz, als Kriegsverbrecher verurteilt. Allerdings fiel die Verurteilung milde aus; bereits 1951 wurde er wieder entlassen, was er – wie man heute weiß – unter anderem den Falschaussagen seiner „Kameraden“ zu verdanken hatte, die ihn noch sechzig Jahre später als „Zeitzeugen“ in „Von Garmisch in den Kaukasus“ als „begnadeten Truppenführer“ und für seine „väterliche Sorge um seine eigene Truppe“ bewundern.

Russell und Kalbitz haben es leicht mit ihrer Verharmlosung der 1. Gebirgsdivision, kann ihr Film doch auf der sichtbaren Geschichte zurückgreifen, die die Geschichte der Täter ist. Denn nur aus der Perspektive der Täter – abgesehen von wenigen Ausnahmen – sind Bilder über den 2. Weltkrieg vorhanden und prägen unsere Vorstellung von dieser Zeit. Die Geschichte der Opfer ist in dieser Hinsicht unsichtbar, weil es von ihr nur in seltenen Fällen Bilder gibt. Im Abspann wird dem Kriegsberichterstatter Wolfgang Gorter gedankt, der das Filmmaterial für „Von Garmisch in den Kaukasus“ aus seinem privaten Archiv zur Verfügung gestellt habe. Filmmaterial, mit dem er über weite Strecken auch die Propagandafilme des Dritten Reiches hätte bestücken können und wahrscheinlich auch bestückt hat.

Für den unbedarften Zuschauer des Youtube-Videos wirken die Erinnerungen der alten Kämpfer authentisch und ihre Erzählungen über die Edelweißdivision erscheinen als wahr. Auch die Art des Films macht einen seriösen Eindruck, was nicht zuletzt an der sonoren Erzählerstimme von Nick Benjamin liegt, den Russell und Kalbitz für den Film engagiert haben. Benjamin ist eine der bekanntesten deutschen Off-Stimmen. Er war Sprecher in dem Musical „König der Löwen“, sprach die Anmoderation im „Aktuellen Sportstudio“ und man hört ihn in zahllosen Dokumentarfilmen, unter anderem in Guido Knopps ZDF-History-Sendungen zur Nazizeit und zum Zweiten Weltkrieg.

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