Monat: März 2018

Zwei Schwestern

Ich saß im Café Schaubühne und las Zeitung, als sich plötzlich zwei Frauen an meinen Tisch setzten. Die eine trug eine graue Pelzjacke, unter der ein Rock hervorschaute. Sie duftete nach Parfum. Die andere hatte ebenfalls einen Rock an, trug aber eine rote Jacke. Beide sahen sich so ähnlich, dass sie eineiige Zwillinge sein mussten: den gleichen stemmigen Körper, das gleiche kantige, sehr männliche Gesicht, das von der gleichen Kurzhaarfrisur mit Pony eingerahmt wurde. Die mit der roten Jacke sagte zu ihrer Schwester, sie solle ihr ein Glas Wasser holen, und setzte sich auf die Bank mir schräg gegenüber. Kaum dass sie saß, fing sie an zu weinen. Was würde jetzt passieren, fragte ich mich, warum habe ich mich nur an einen der Vierertische gesetzt. Da kam die Frau in der Pelzjacke zurück und stellte ihrer weinenden Schwester das Glas Wasser hin. Die wiederum stand auf, machte ein ernstes Gesicht und sagte: „Du setzt dich jetzt da mal hin“. Sie zeigte auf den Platz neben mir, nahm wieder den Platz gegenüber ein und weinte weiter. Aber einen Augenblick später erhob sie sich wieder, nahm ihre Schwester beim Arm, setzte sie neben sich auf die Bank und sagte: „Du hörst mir jetzt mal zu.“ Dann begann sie auf ihre Schwester einzureden. Ich verstand zunächst nichts, weil sie sehr undeutlich sprach.

Ich versuchte weiter zu lesen. Aber es ist schwer, jemandem nicht zuzuhören, der am selben Tisch sitzt, weint und zwischendurch, immer lauter werdend, mit jemandem schimpft, selbst wenn man nichts versteht. Die Frau mit der Pelzjacke blieb zunächst stumm. Ihre Schwester war offenbar diejenige, die sagte, wo es langgeht. Aber genau das schien auch das Problem zu sein. „Ich will endlich mein Leben zurückhaben“, verstand ich, „ich kann nicht ständig auf dich aufpassen.“ Danach stand sie auf, sagte, „warte hier“, und ging nach draußen. Blitzschnell drehte sich die Frau mit der Pelzjacke zu mir um und redete los. Auch sie war schwer zu verstehen, ich verstand nur, „Aber dafür muss man mich doch nicht in der Wohnung einsperren!“ Im nächsten Moment kam ihre Schwester wieder herein und sagte streng, „Lass den Mann in Ruhe!“, setzte sich und sagte dann noch einmal, „Lass den Mann in Ruhe!“ Danach begann sie wieder zu weinen.

Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen. Aber was? Eingreifen und schlichten? Aber ich kannte die beiden ja gar nicht. Dann begann sich die Frau in der grauen Pelzjacke, die ja bisher geschwiegen hatte, zu verteidigen. Ich verstand wieder nichts, sah nur, wie aufgebracht ihre Schwester jetzt wurde, wie sie die Hände zu Fäusten geballt nach unten schlug und mit unterdrückter Stimme „nein, nein, nein!“ sagte. Die Frau in der grauen Pelzjacke wurde jetzt lauter, woraufhin sie ihre Schwester mit „nicht so laut, nicht so laut“ ermahnte. Sie selbst wurde dann allerdings auch laut. Langsam bekam ich Angst, dass die beiden aufeinander losgehen würden, aber es blieb nur bei Worten und Gesten.

Ich sah mich um. Etwa die Hälfte der Tische im Café waren besetzt. Im gleichen Moment sah mich die Frau mit der roten Jacke an und fragte: „Sind wir zu laut? Stören wir Sie?“ „Nein, nein“, log ich. Ihr Gesicht hatte sich von einer Sekunde auf die andere völlig entspannt und verwundert bemerkte ich, dass keine Tränen zu sehen waren. Spielte sie vielleicht nur Theater? Ihr Blick riss sie zumindest aus ihrer Rolle, zurück in die wohltemperierte Stimmung des Cafés. Dann ging der Streit von Neuem los.

Das Café ein Ort, in dem man allein sein kann ohne einsam zu sein. Aber irgendwie fühlte ich mich jetzt einsam.

Plötzlich tauchte ein Mann hinter mir auf, Ende fünfzig, weiße Haare und Brille. Er sagte zu den beiden: „Sie müssen sich doch nicht streiten. Sie haben doch beide recht.“ Ich dachte: Das ist auch keine Lösung und versuchte weiter zu lesen. Irgendwann trank ich dann meinen Kaffee aus und packte meine Sachen zusammen. „Wir haben Sie doch jetzt nicht vertrieben?“, fragte die Frau in der roten Jacke. „Nein, nein, ich muss sowieso gehen“, sagte ich, was halb stimmte, halb eine Lüge war. „Wir haben Sie doch nicht vertrieben“, wiederholte sie. Wieder sah sie mich völlig gefasst an, obwohl sie eine Sekunde vorher noch vor Wut getobt hatte.

Das Haus und das Gebüsch

Viele Bilderbücher entfalten für mich einen geheimnisvollen Sog. Dabei spielt ihr künstlerische Wert keine Rolle. Sie können ruhig kitschig sein, wichtig ist nur, dass sie wenig zeigen. Wimmelbücher beispielsweise funktionieren nicht. Außerdem ist es wichtig, dass das, was zu sehen ist, eine gewisse Räumlichkeit entwickelt, wie eine hügelige Wiese mit Tieren, einem kleinen Haus und einem Gebüsch. Wobei die Tiere uninteressant sind, interessant sind für mich das Haus und das Gebüsch. Außerdem sollte es nicht zu viele Details geben. Je einfacher alles gezeichnet ist desto besser. Allerdings muss schon der kleinste gemeinsame Nenner der Dinge getroffen sein. Abstrakte Bilder funktionieren auch nicht. Das Gebüsch muss als Gebüsch, das Haus als Haus erkennbar sein. Wenn dann alle Faktoren stimmen – und sie stimmen bei vielen Bilderbüchern – stellt sich mir jedes Mal, wenn ich eines aufschlage, unwillkürlich die Frage: Was befindet sich in diesem Haus, was befindet sich hinter diesem Gebüsch? Die Antwort bleibt dabei ein Geheimnis. Denn wer könnte über die Wiese gehen, wer könnte die Tür des Hauses öffnen, wer könnte hinter das Gebüsch sehen?

© 2024 Berliner Chaussee

Theme von Anders NorénHoch ↑