Kategorie: Allgemein (Seite 5 von 12)

Wir spielen nur oder: Das ist Krieg!

Ich wollte zum Weinladen um die Ecke. Als ich aus der Haustür trat, standen dort, wo früher die Holzbank von Herrn Melzer, dem Tierbestatter, gestanden hatte, drei Männer. Von Weitem sahen sie wie Jugendliche aus, aber als ich näher kam, erkannte ich, dass sie älter waren, vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig. Alle drei blickten auf ihr Smartphone, einer hatte sorgar zwei in der Hand. Es sah aus, als wären sie Touristen, die sich verlaufen hatten, und nun mit Hilfe moderner Technik zurückfinden wollten. Aber ich vermutete, dass sie dieses Spiel spielten, dessen Name mir nicht einfiel, für das man ein Smartphone mit GPS und Internetzugang benötigt. Aus einer Laune heraus fragte ich trotzdem: „Kann ich helfen?“

„Danke, wir spielen nur“, sagte einer der Drei. Weil ich lächelte und auch gleich weiterging, merkten sie, dass ich nur einen Scherz gemacht hatte. Ich hörte, wie einer etwas sagte und sie lachten.

Als ich kurz darauf zurückkam, standen sie immer noch da, inzwischen weiter vorne, an der Litfasssäule. Mit meinen Weinflaschen in der Einkaufstasche ging ich auf sie zu. Der Unscheinbarste der drei sah auf die Tasche hinunter, in der die Flaschen gut zu sehen waren, machte ein besorgtes Gesicht und sagte: „Naja!?“

Ich lächelte, überging seinen Kommentar und meinte: „Sie spielen sicher Pocahontas.“

„Pocahontas gibt es nur in Südamerika“, erwiderte ein Zweiter ohne von seinem Smartphone aufzublicken. Er hatte einen großen Kopf und eine unnatürlich rote Gesichtshaut.

„Pokemon Go“, korrigierte ich meinen Fehler.

„Ingress, ein Vorgänger sozusagen“, sagte der mit den zwei Handys. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Selbst seine Brille mit ihren großen runden Gläsern hatte ein schwarzes Gestell. Im Kontrast dazu stand seine wächserne, fast weiße Haut. Ich dachte, die beiden sehen nicht gesund aus.

„Und was ist das?“, fragte ich.

„Das ist Krieg!“, antwortete der mit dem roten Gesicht.

Der Schwarz gekleidete kam auf mich zu und hielt mir eines seiner beiden Smartphones hin. „Man sucht Punkte, macht ein Foto, und verbindet sie“, sagte er. „So entstehen dann Felder. Hier zum Beispiel der Stolperstein in der Seesener Straße.“ Ich sah auf dem Bildschirm ein Foto der kleinen Messingplatte, auf der die Geburts- und Deportationsdaten der ermordeten jüdischen Berliner, die dort einmal gelebt hatten, eingraviert waren. Er berührte das Foto und eine Karte mit leuchtenden Linien erschien, die verbunden Felder bildeten. „Es kommt darauf an“, erklärte er, „möglichst viele Felder zu besetzen“.

„Das Problem ist, dass man gegen eine andere Mannschaft kämpft“, meinte der Mann mit dem roten Gesicht.

„Na ja, da gilt doch fair play, oder?“, erwiderte ich.

„Tja, da gibt es immer einige, die sehen das anders“, sagt der Mann in Schwarz. Der unscheinbare Dritte war schon in Richtung Westfälische Straße weitergegangen. Der mit dem roten Gesicht ging hinter ihm her.

„Schönen Tag noch“, sagte der schwarz Gekleidete und folgte den anderen.

„Viel Spaß beim Spielen“, sagte ich und ging weiter.

Wo ist denn das Baby?

Auf dem Rückweg vom Kinderladen, am Krakauerplatz, kamen mir zwei kleine Mädchen entgegen. Sie hielten sich an der Hand und ich wunderte mich, denn nirgendwo war ein Erwachsener zu sehen. Es war kalt, beide waren warm angezogen und hatten die Kapuzen ihrer gepolsterten Jacken über ihre Köpfe gezogen. Ich wollte rechts über die Ampel zur Heilbronner Straße gehen und blieb stehen.

„Wo ist denn das Baby?“, fragte das größere der beiden. Ich überlegte kurz, welches Baby gemeint war, bis mir der leere Kinderwagen vor mir einfiel.

„Im Kinderladen“, sagte ich.

„Ach, so.“ Einen Augenblick lang schien das Mädchen zu überlegen. Dann sagte es: „Ich und meine Freundin kaufen Brötchen.“ Inzwischen musste die Ampel auf grün gesprungen sein, aber das hatte ich nicht mitbekomen. „Na dann, viel Glück beim Brötchenkauf“, sagte ich.

„Wir haben schon Brötchen gekauft“, erwiderte das kleinere Mädchen und zeigte auf die Papiertüte in der Hand der Freundin. Dann hielt es eine Hand mit abgespreizten Fingern in die Luft und sagte: „Fünf.“

„Ach, fünf Brötchen habt ihr gekauft“. Ich sah mich kurz nach der Ampel um, die wieder auf rot gesprungen war.

„Nein, meine Freundin ist schon fünf Jahre alt.“

„Wir fahren morgen in den Urlaub, nach Thailand“, sagte das größere Mädchen.

„Na, toll. Dann wünsche ich Dir einen schönen Urlaub.“

Als eines der beiden Mädchen „Tschüss“ sagte, hatten sie sich schon abgewandt und waren links in die Gerviniusstraße eingebogen. Sie hielten sich immer noch an der Hand. „Tschüss“, sagte auch ich und wartete darauf, dass die Ampel wieder auf Grün sprang.

Der Stromzähler

Donnerstag Morgen klingelte es an der Tür. Wir saßen in der Küche und waren gerade mit dem Frühstück fertig. E. rief sofort, „gucken, gucken!“ Ich nahm sie auf den Arm und öffnete. Es war der Mann, der unseren Stromzähler austauschen sollte. Ein Brief von der Netzgesellschaft hatte ihn vor zwei Wochen angekündigt. Ich hatte das ganz vergessen.

„Ich bin zwei Jahre alt“, sagte E. „Und ich bin vierzig Jahre alt“, sagte der Mann lachend. Er hatte einen kleinen Werkzeugkoffer aus Plastik dabei. An seiner Schulter hing eine dieser großen blauen Plastiktaschen, die es bei IKEA gibt. Als er sie auf den Boden stellte, sah ich, dass darin alte und neue Zähler lagen. Er nahm eine Zange, eine Stirnlampe und einen Akkuschrauber aus dem Koffer und sagte, „so, jetzt mal alle Geräte ausschalten, Computer, Waschmaschine.“ Ich setzte E., die den Mann die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte, auf den Boden, und ging durch die Wohnung, um alles abzuschalten. Als ich wieder zurückkam, hatte der Mann seine Stirnlampe angeschaltet. Dann drehte er die Hauptsicherung heraus. Plötzlich war es dunkel bis auf den von der Lampe beleuchteten Kreis.

„Na, das ist ja jetzt wie in einer Kohlengrube“, sagte ich. Er lachte. „Ja, die ist wie eine Grubenlampe. Normalerweise ist sie noch heller, ich muss mal die Batterie wechseln.“
„Ist das nicht langweilig, den ganzen Tag Zähler austzuauschen?“, fragte ich.
„Um ehrlich zu sein“, sagte er, „mache ich das nur, weil ich als Elektriker weniger verdiene.“ Mit wenigen Handgriffen hatte er den alten schwarzen Zähler von der Wand gelöst und abgenommen. Er legte ihn in die blaue Plastiktasche und entnahm ihr einen der neuen Zähler aus grauem Plastik.
„Aber Handwerker werden doch gut bezahlt“, erwiderte ich.
„Ja, aber keine Elektriker. Das liegt daran, dass Elektriker nicht Bauhauptgewerbe sind, sondern Baunebengewerbe.“
„Und sich selbstständig machen?“
„Ach, das ist nichts für mich. Also, ich geb zu, ich sitz nach Feierabend gern auf dem Sofa und leg die Füße auf den Tisch.“ Ich sagte, dass auch ich kein Talent zum Unternehmer hätte. Dazu müsse man schon geboren sein. Inzwischen hatte er den neuen Zähler in die Anschlusskabel an der Wand gesteckt.

„So, jetzt wird es mal laut“, sagte der Mann und sah E. an. Dann knarrte der Akkuschrauber wie beim Reifenwechsel in der Autowerkstatt. Drei mal, dann war der neue Zähler befestigt. Insgesamt waren es wohl nicht mehr zwei Dutzend Handgriffe, um den alten schwarzen Zähler gegen den grauen digitalen auszutauschen. Am Ende zog er einen Draht durch zwei Ösen und verplombte ihn mit einer Zange.
„Das machen Sie, damit wir keinen Strom klauen.“
„Ja“, lachte er, „aber das kommt selten vor. In den drei Jahren, die ich Zähler tausche, ist mir das erst zwei mal untergekommen. Aber ich werd ja auch angekündigt.“ Dann trat eine kleine Pause ein, während der ich darüber nachdachte, was ich noch fragen könnte.

„Haben sie es weit, wohnen Sie hier in der Gegend?“ fragte ich schließlich.
„Nein, ich wohn in Spandau. Das heißt, in Siemensstadt, aber das ist ja Spandau. Vorher hab ich in Steglitz gewohnt. In einer sehr schönen Wohnung.“
„Sie sind bestimmt wegen der Miete umgezogen“.
„Genau, aber ich hab Familie in Spandau. Da war ich sowieso vorher schon immer da. So war die Gegend nicht neu für mich. Da dachte ich, vielleicht ist die Miete dort günstiger. Ja, und wirklich, ich hatte Glück und hab eine günstigere Wohnung gefunden.“ Wir schimpften dann noch gemeinsam über die steigenden Mieten und das nicht wirklich etwas dagegen unternommen wird. Dann gingen wir runter zur Nachbarin, die heute unterwegs war und uns den Schlüssel gegeben hatte.

S., ein anderer Nachbar, schrieb am Nachmittag per Telegram: „Hässliches neues Gerät, das alte war so schön mechanisch.“ Und ich dachte: Er hat recht, der neue digitale Zähler sieht wirklich hässlich aus. Und man kann ihn nur schwer ablesen. Ohne es zu bemerken, hatte auch ich mich an die alten schwarzen Kästen mit der rotierenden, an einer Stelle rot markierten Scheibe gewöhnt.

Mann und Frau stehen vor der Schaubühne

Seit dem Ende der Spielpause sehe ich immer wieder, wenn ich zum Café Schaubühne fahre, einen Mann und eine Frau vor der großen runden Glasfront des Theaters stehen. Die Frau ist sehr dünn, hat schulterlange, grau-schwarze Haare und ein zerfurchtes, abgemagertes Gesicht. Der Mann trägt Stoppelhaarschnitt und eine rechteckige Brille mit Silberrand. Beide sind in ein existentialistisches Schwarz gekleidet: schwarze Jacken, schwarze T-Shirts, schwarze Hosen, schwarze Schuhe. Sie scheinen etwa gleich alt zu sein, vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig. Ich habe sie noch nie Theaterkarten kaufen sehen. Mich würde auch nicht wundern, wenn sie noch nie im Café waren. Sie stehen einfach nur da und unterhalten sich. Manchmal raucht die Frau, manchmal steht sie nur vor dem Mann. Manchmal raucht der Mann. Beide sehen aus, als seien sie Überbleibsel aus dem Westberlin der siebziger oder achtziger Jahre.

Warum stehen sie dort? Um etwas von der Aura des Theaters zu spüren? Das Gefühl zu haben, ein Teil davon zu sein? Und damit dem Augenblick einen Sinn zu geben, das Gefühl zu haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein? Letztens tauchte Schaubühnenchef Thomas Ostermeier im Café mit einer blauen Arbeiterjoppe auf, ähnlich der, wie sie Brecht trug. Ironischerweise ließ sich der Erfinder des epischen Theaters die proletarische Kleidung von einem Maßschneider anfertigen. Aber scheinbar lässt sich auch Ostermeier vom Geist dieser Jacke inspirieren. Vielleicht weniger von deren proletarischem Geist als von dem des Augsburger Theatermachers. Und auch ich, der ich gerne im Café Schaubühne sitze, fühle mich inspiriert, entgehe damit für einen Augenblick dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Alltags.

Dass unsere Wirklichkeit bzw. das, was uns jeden Tag zu schaffen macht, mit diesem Geist wenig zu tun hat, liegt auf der Hand. Weder ich noch die Frau oder der Mann sind Teil des Theaters, genauso wenig wie Thomas Ostermeier Berthold Brecht ist. Und doch: Für den Mann und die Frau vor dem Theater ist die Verklärung durch die Aura des Theaters so real wie der Alltag, dem sie damit entgehen.

Die chinesische Mauer

Die Drachen waren schon von Weitem über den grasbewachsenen Dünen zu sehen. Als wir den Strand erreichten, sahen wir, dass sie an einer langen Leine hingen, deren Enden an kleinen Sandsäcken am Boden befestigt waren. In dem dadurch entstandenen etwa zwanzig Meter hohen Bogen befanden sich wiederum drei kleinere Bögen mit Drachen. Ließ der Wind nach, senkten sich die Bögen, wurde er stärker, erhoben sie sich wieder in den Himmel, an dem ein paar Wolken mit der Sonne um die Vorherrschaft stritten.

Wir waren schon ein kleines Stück an den Drachen vorbei, als uns ein Mann nachlief. Ich erkannte ihn, er hatte uns am Tag zuvor am Strand angesprochen. „Na, auf Bernsteinsuche?“, hatte er gefragt. Ein Däne, der – entgegen dem gängigen Klischee – sehr gesprächig war. Stämmiger Körper, braun gebrannt, oben auf dem Kopf eine kleine Tonsur, die bedrohlich rosa leuchtete. Er trug eine eckige Brille mit dünnem Metallrand, zeigte auf die Drachen und sagte: „Das habe ich und meine Familie konstruiert. Wir sind 28, 29 Mitglieder“. „Toll“, sagte ich ehrlich beeindruckt, und er erzählte weiter. „Wir haben das für das Drachenfestival auf Fanö gebaut.“ Er begann mit einem Stock Halbkreise im Sand zu zeichnen. „Aber hier, viel größer, nicht mit vier Bögen, sondern mit fünf, und dann fünf Reihen hintereinander. Da kam dann ein Deutscher, der sagte: »Was habt ihr doofen Dänen da denn gemacht?«“ Er lachte. „»Das ist ja wie der Kölner Dom.«“

A. kümmerte sich um E., die über den Strand rannte und mit einem Ball spielte, der unten an einer der Leinen der Drachenkonstruktion befestigt war. Wir sahen den beiden eine Weile zu. Dann fragte ich: „Woher können sie denn so gut Deutsch?“ „Ich komm aus Sonderburg“, antwortete er. „Da ist Deutschland nicht weit.“ Mir fiel ein, dass vor Sonderburg, an den Düppeler Schanzen, 1864 die entscheidende, von den preußischen Truppen gewonnene Schlacht gegen Dänemark stattgefunden hatte. Danach wurde nach zweihundert Jahren dänischer Herrschaft Schleswig-Holstein preußisch. Etwas weiter unten am Strand lag außerdem, halb im Wasser eingesunken, einer der 8.000 Bunker, die das Deutsche Reich während der Besetzung Dänemarks im 2. Weltkrieg entlang der Nordseeküste bis zum Ärmelkanal gebaut hatte. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Dänen waren lange feindlich gewesen.

„Gut, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Dänen so gut geworden ist“, sagte ich. „Das war ja mal anders.“ Ich zeigte auf den Bunker, der wie ein schwarz-grauer Felsen aus dem Meer herausragte. „Ach, den Krieg meinen sie. Zum Glück hab ich damit nichts mehr zu tun. Ich bin 1947 geboren. Aber meine Mutter, die hatte elf Geschwister. Die eine Hälfte hatte“, er suchte nach dem Wort und ich half ihm: „Sympathien“. „Ja, die hatten Sympathien mit den Deutschen, die andere Hälfte war dänisch. Erst bei meiner Konfirmation, 1961, ist die ganze Familie wieder zusammengekommen. Das erste Mal seit dem Krieg.“

„Schon komisch“, sagte ich. „In tausend Jahren werden wahrscheinlich alle heutigen Bücher und Bilder verschwunden sein. Aber diese bescheuerten Bunker werden noch stehen. Obwohl sie völlig sinnlos waren. Am D-Day haben die Alliierten am Ärmelkanal nur ein paar Stunden gebraucht, um sie zu überwinden.“ Ich dachte einen Moment lang nach. Dann sagte ich: „Im Grunde wie die chinesische Mauer. Die war auch ein Flop. Die konnte auch nicht verhindern, dass die Nomadenstämme aus dem Norden nach China eindrangen. Und heute steht sie immer noch da und ist Touristenattraktion.“

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2024 Berliner Chaussee

Theme von Anders NorénHoch ↑