Mann und Frau stehen vor der Schaubühne

Seit dem Ende der Spielpause sehe ich immer wieder, wenn ich zum Café Schaubühne fahre, einen Mann und eine Frau vor der großen runden Glasfront des Theaters stehen. Die Frau ist sehr dünn, hat schulterlange, grau-schwarze Haare und ein zerfurchtes, abgemagertes Gesicht. Der Mann trägt Stoppelhaarschnitt und eine rechteckige Brille mit Silberrand. Beide sind in ein existentialistisches Schwarz gekleidet: schwarze Jacken, schwarze T-Shirts, schwarze Hosen, schwarze Schuhe. Sie scheinen etwa gleich alt zu sein, vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig. Ich habe sie noch nie Theaterkarten kaufen sehen. Mich würde auch nicht wundern, wenn sie noch nie im Café waren. Sie stehen einfach nur da und unterhalten sich. Manchmal raucht die Frau, manchmal steht sie nur vor dem Mann. Manchmal raucht der Mann. Beide sehen aus, als seien sie Überbleibsel aus dem Westberlin der siebziger oder achtziger Jahre.

Warum stehen sie dort? Um etwas von der Aura des Theaters zu spüren? Das Gefühl zu haben, ein Teil davon zu sein? Und damit dem Augenblick einen Sinn zu geben, das Gefühl zu haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein? Letztens tauchte Schaubühnenchef Thomas Ostermeier im Café mit einer blauen Arbeiterjoppe auf, ähnlich der, wie sie Brecht trug. Ironischerweise ließ sich der Erfinder des epischen Theaters die proletarische Kleidung von einem Maßschneider anfertigen. Aber scheinbar lässt sich auch Ostermeier vom Geist dieser Jacke inspirieren. Vielleicht weniger von deren proletarischem Geist als von dem des Augsburger Theatermachers. Und auch ich, der ich gerne im Café Schaubühne sitze, fühle mich inspiriert, entgehe damit für einen Augenblick dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Alltags.

Dass unsere Wirklichkeit bzw. das, was uns jeden Tag zu schaffen macht, mit diesem Geist wenig zu tun hat, liegt auf der Hand. Weder ich noch die Frau oder der Mann sind Teil des Theaters, genauso wenig wie Thomas Ostermeier Berthold Brecht ist. Und doch: Für den Mann und die Frau vor dem Theater ist die Verklärung durch die Aura des Theaters so real wie der Alltag, dem sie damit entgehen.

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