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Russische Literatur

Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für die russische Literatur. Anton Tschechow gehört zu meinen Lieblingsautoren. Den russischen Autoren würde ich einiges verzeihen, aber wenn ich darüber nachdenke, ist da eigentlich nicht so viel zu verzeihen, zumindest was Themen der derzeitigen Diskussion über Russland angeht: Autokratie, Korruption, Verletzung der Menschenrechte. Die allermeisten Autoren, die heute noch eine Bedeutung haben, waren keine Staatsdichter, waren Gegner des Zarismus, die später Geborenen Gegner der Bolschewisten. Und ein zeitgenössischer Autor wie Vladimir Sorokin befindet sich im mehr oder weniger freiwilligen Exil in Berlin, weil ihn Putins Moskau zu sehr an die Sowjetzeit erinnert.

Ausnahmen gab es, wie überall, auch unter den russischen Schriftstellern, zum Beispiel Maxim Gorki, von dem Sinaida Hippius maßlos enttäuscht war, weil er sich nach anfänglich lautstarker Gegnerschaft den Bolschewisten anschloss. Hippius führte im St. Petersburg der Zarenzeit einen sehr erfolgreichen Salon. Sie galt als Skandaldichterin, die für die Zeit blasphemische Gedichte vortrug, aber dann schrieb sie während des Ersten Weltkriegs und der Revolutionszeit ein überraschend hellsichtiges politisches Tagebuch. 1919 floh sie erst nach Polen, dann nach Frankreich, wo sie in Paris 1945 starb. In St. Petersburg kannte sie fast alle Künstler und Intellektuelle. Von Gorki schreibt sie, dass er sich während der Revolution billig mit Antiquitäten Verfolgter eindeckte. Das passt zu seinem aufwendigen Lebensstil, den er auch im Berliner Exil pflegte, und von dem nach dem Ende der Sowjetunion bekannt wurde, dass ihn der sowjetische Staat auf persönlich Anordnung Lenins hin finanziert hat (was er immer abstritt). Am Ende brachten ihn die Schmeicheleien Stalins dazu, in die Sowjetunion zurückzukehren, wo er die Arbeitslager als „pädagogisch wertvoll“ pries. Allerdings war gleichzeitig eine komplette Abteilung des KGB mit seiner Überwachung beschäftigt, denn man traute ihm nicht.

Aber wie gesagt, Gorki war eine Ausnahme. Und Hippius hatte anfangs auch Mitleid mit ihm. Wer sich gegen das Regime aussprach, verlor ja seine Geschäftsgrundlage. Gorki konnte weiter in der Sowjetunion veröffentlichen, weil er sie öffentlich verteidigte. Die Autoren, die das Regime kritisierten, mussten nicht nur ins Exil fliehen, sie verloren auch ihre Leser. Ihre Bücher erschienen in Exilverlagen, aber russische Leser gab es im Ausland nur wenige, und mancher wurde deshalb vergessen, wie zum Beispiel der großartige, gerade wieder ausgegrabene Gaito Gasdanow. Auch Nabokovs erste Romane, die er in den 1930er Jahren in Berlin auf Russisch schrieb und veröffentlichte, wurden kaum wahrgenommen. Erst in den USA, mit seinen auf englisch verfassten Büchern, hatte er Erfolg. Es war also keine einfache Entscheidung, Russland in dieser Zeit den Rücken zu kehren.

Und es gab auch während der Sowjetzeit interessante Autoren jenseits der Samisdat-Literatur. Zum Beispiel den 2003 gestorbenen Weißrussen Wassil Bykow. Bykow hat während des Zweiten Weltkriegs als Partisan gekämpft und alle seine Bücher drehen sich um dieses Thema. Vielleicht sind nicht alle seine Romane so gut wie „Die Schlinge“, aber dieses Buch hat mich nachhaltig beeindruckt. Der Krieg wird hier aus der Sicht von zwei Partisanen geschildert, die versuchen, Lebensmittel für das Überleben ihrer Einheit zu organisieren. Wie in einem Western, in einer einfachen, aber gnadenlosen Situation, werden die Protagonisten an den Rand ihrer Menschlichkeit und darüber hinaus gezwungen. Nur, dass Bykow – besser als fast alle Western – ideologischen Vorgaben entgeht. Einen positiven Helden, der für Gerechtigkeit sorgt, gibt es hier nicht. Und die Deutschen bleiben zwar als Ursache des Krieges präsent, aber nur im Hintergrund, als ständige Gefahr. Wichtiger ist Bykow zu zeigen, dass der Krieg für den Einzelnen sehr schnell zu einer unhinterfragbaren Naturkatastrophe wird, einer Hölle, in der er unmenschliche Entscheidungen treffen muss. Entscheidungen, die ihn – wie wahrscheinlich Bykow selbst – ein Leben lang verfolgen.

Gardinen

Im Grunewald, auf dem ehemaligen Gelände des Güterbahnhofs, sind neue Häuser gebaut worden. Fast alle haben eine kastenartige Form. Ich vermute, dass das einerseits mit der derzeitigen Mode bei Einfamilienhäusern zusammenhängt, andererseits wird diese Mode wohl von den hohen Grundstückspreisen und der baubehördlichen Höhenbeschränkung an dieser Stelle vorangetrieben. Jeder Quadratmeter bebaubarer Fläche muss ausgenutzt werden. Ein Investor, der das Gelände vor ein paar Jahren parkartig mit großen Grundstücken vermarkten wollte, war gescheitert. Er fand niemanden, der die hohen Preise zahlen wollte.

Interessant an den Häuser ist nicht nur, dass die Entfernung bis zum Haus des Nachbarn und zur Schallschutzwand auf der Seite der Bahnstrecke wenige Meter beträgt, sondern auch die riesigen Fenster. Geht man durch eine der Straßen, kann man das komplette Familienleben in den Häusern beobachten, insbesondere abends, wenn es dunkel wird und drinnen, wie in einem Aquarium, alles hell erleuchtet ist. Es gab mal eine Zeit, in der keine Gardinen ein Zeichen für Anarchismus und Promiskuität war. Eine Zeit, in der Nachbarn gefürchtet wurden, und man alles daran setzte, den privaten Bereich der Wohnung nach Außen hin abzuschirmen. Eine Zeit, in der der soziale Druck deutlich höher war als heute.

Wer würde sich solche Zeiten zurückwünschen? Als ich letztens jedoch im Fenster einer Wohnung an einer großen Straße plötzlich einen Mann in Unterhose sah, dachte ich, dass „Scham“ auch ein positives Gefühl ist. Ein Gefühl, dass den Anderen als Anderen, als Subjekt wahrnimmt. Dass das Verschwinden (oder wahrscheinlicher: die Verschiebung) der Scham vor allem Ausdruck einer stärkeren Individualisierung ist. Der soziale Druck sinkt, die individuelle Freiheit steigt. Ohne Gardinen ist die Wohnung heller und die Aussicht ungestörter. Ja, man hat sogar das Gefühl, weniger isoliert und mehr ein Teil der Stadt zu sein, die man in jedem Moment durch die großen Scheiben sehen kann. Aber indem mir egal ist, was diejenigen, die mich in Unterhose von draußen sehen, denken und fühlen, ignoriere ich sie. Genauso, wie die Leute, die lautstark in der Bahn telefonieren, die anderen Fahrgäste ignorieren.

Doch dann stellt sich die Frage: Stört es heute überhaupt jemanden, wenn er nachts einen Mann in Unterhose am Fenster sieht? Schließlich ist jede Bushaltestelle mit einer BH- oder Unterhosenwerbung hell erleuchtet. Die Scham in diesem Bereich ist also nicht nur bei denen verschwunden, die sich, um in den alten Kategorien zu sprechen, „schamlos zeigen“, sondern auch bei denen, die ihn sehen und das nicht mehr als „schamlos“ empfinden. Aber wohin ist die Scham dann verschwunden? Und was bedeutet es, wenn der soziale Druck nachlässt, die Indifferenz zunimmt und es mich auch in anderer Hinsicht nicht mehr interessiert, was mein Nachbar macht?

Vermischtes

Gestern Abend eine alte Dame zum Schultheaterabend ihres Enkels begleitet. Bin bestimmt seit einem halben Jahr nicht mehr U-Bahn gefahren und habe vergessen, wie das ist. Berliner Straße, wo wir umsteigen mussten, zwängt sich die Masse die Treppe rauf zur Linie nach Steglitz. Plötzlich höre ich hinter mir eine Frauenstimme, die sich laut mit „Was soll das?“ beschwert. Danach verstehe ich noch, „Sie brauchen mir ja nicht gleich in den Hinter zu kneifen“. Als wir oben den Bahnsteig erreicht haben, läuft eine mittelgroße langhaarige Frau, um die dreißig, den Bahnsteig nervös rauf und runter.

Nach dem Theater (Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“) gehen wir gegen 21 Uhr durch das nächtliche Friedenau. Die Mutter des theaterspielenden Enkels hat uns zu einem Imbiss in ihre Wohnung ganz in der Nähe der Schule eingeladen. Wir sind eine kleine Gruppe, der Bürgersteig ist schmal, deshalb gehe ich vorweg und drehe mich ab- und zu zu den anderen um. Als ich mich kurz vor der Wohnung wieder einmal nach vorne wende, hält mich plötzlich jemand am Kragen meiner Jacke fest. Ich bleibe stehen und sehe in das Gesicht einer Frau. Sie ist einen Kopf kleiner als ich, hat schwarze schulterlange Haare und trägt eine randlose Brille. „Na, erinnerst Du Dich, gestern im Club“, sagt sie drohend und sieht mir fest in die Augen. Im ersten Augenblick verfalle ich in eine Art Tragstarre, wie bei einer Katze, die man in den Nacken greift und hochhebt. Angst habe ich keine, aber einen Moment lang ein schlechtes Gewissen, das vielleicht dazu führt, dass ich erst mal gar nichts mache. Dann frage ich mich, ob ich die Frau kenne, ob das vielleicht nur ein Scherz ist. Aber ich erkenne sie nicht und ich war auch am Abend zuvor in keinem „Club“, es muss sich um eine Verwechslung handeln. Ich versuche, mich loszumachen, aber sie hält mich weiter fest. Ich habe kein Zeitgefühl mehr, fühle mich, wie aus der Welt gefallen. Irgendwann sage ich dann: „Sie müssen sich irren, ich bin nicht der, für den sie mich halten“. „Ja, wer den sonst“, erwidert sie, „etwa der Weihnachtsmann oder der Schneemann?“

Meine Gefühle schwanken jetzt zwischen Amüsiertheit und Beunruhigung. Ich sage, „wenn sie mich jetzt nicht loslassen, muss ich die Polizei rufen“. N., die ich jetzt neben mir sehe, wiederholt das und holt ihr Handy heraus. Aber die Frau lässt nicht los. Ich weiß nicht, ob sie dann noch etwas gesagt hat, auf jeden Fall deutet sie irgendwann mit ihrem rechten Knie an, mir in die Eier treten zu wollen. Danach lässt sie los. Sie geht den Bürgersteig hinunter, dreht sich noch mal um, und zeigt mir den Stinkefinger.

Kinder

Eine Freundin arbeitet zurzeit als Lehrerin für Flüchtlingskinder. In dreimonatigen Kursen soll sie ihnen grundlegende Deutschkenntnisse beibringen, damit sie danach am normalen Unterricht teilnehmen können. Die Unterrichtsräume befinden sich in einer Schule für psychisch kranke Kinder. Sie erzählt, dass die Flüchtlingskinder und die kranken Kinder völlig unterschiedlich sind. Die kranken Kinder sind ruhig. Manche sind depressiv, manche autoaggressiv, manche haben schon einen Selbstmordversuch hinter sich. Während die Flüchtlingskinder, von denen viele aus dem Krieg in Syrien kommen, eine unglaubliche Energie hätten. „Ja, die sind traumatisiert, aber diese Energie!“ „Und“, fügt sie hinzu, „zum Glück sind die Familienstrukturen noch intakt – wenn es auch patriachale Strukturen sind.“

Der Flaschensammler

Heute morgen hat wieder der Flaschensammler geklingelt. „Ich bin der Mann, der wegen der Pfandflaschen kommt“, sagt er und ich mache ihm auf. Selbst durch die schlechte Qualität der Gegensprechanlage ist sein niedergeschlagener Ton zu hören. Er kommt alle paar Wochen vorbei und durchsucht unsere Glasmülltonnen nach Pfandflaschen. Einmal habe ich ihm von oben dabei zugesehen. Beim Öffnen der Mülltonnen schimpfte er leise vor sich hin. Aber er fand Pfandflaschen und er würde auch diesmal wieder welche finden.

Für manche, die im Haus wohnen, lohnt es sich einfach nicht mehr, die Flaschen zurückzubringen. Genauso, wie es sich hier für viele nicht mehr lohnt, nach einem Parkplatz fürs Auto zu suchen. Sie parken einfach irgendwo, wo noch Platz ist. In der Gegend um den Ku’damm kostet mancher Wagen mehr als 100.000 Euro. Wer sich solch ein Auto leisten kann, für den sind die fünfzehn oder zwanzig Euro fürs Falschparken so lächerlich gering wie die fünfzehn Cent Pfand pro Pfandflasche. Der größte Ärger besteht dann darin, den Überweisungsbeleg für den Strafzettel auszufüllen. Aber das macht dann wahrscheinlich die Sekretärin. So wie der Flaschensammler die Pfandflaschen zurückbringt.

 

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