Gardinen

Im Grunewald, auf dem ehemaligen Gelände des Güterbahnhofs, sind neue Häuser gebaut worden. Fast alle haben eine kastenartige Form. Ich vermute, dass das einerseits mit der derzeitigen Mode bei Einfamilienhäusern zusammenhängt, andererseits wird diese Mode wohl von den hohen Grundstückspreisen und der baubehördlichen Höhenbeschränkung an dieser Stelle vorangetrieben. Jeder Quadratmeter bebaubarer Fläche muss ausgenutzt werden. Ein Investor, der das Gelände vor ein paar Jahren parkartig mit großen Grundstücken vermarkten wollte, war gescheitert. Er fand niemanden, der die hohen Preise zahlen wollte.

Interessant an den Häuser ist nicht nur, dass die Entfernung bis zum Haus des Nachbarn und zur Schallschutzwand auf der Seite der Bahnstrecke wenige Meter beträgt, sondern auch die riesigen Fenster. Geht man durch eine der Straßen, kann man das komplette Familienleben in den Häusern beobachten, insbesondere abends, wenn es dunkel wird und drinnen, wie in einem Aquarium, alles hell erleuchtet ist. Es gab mal eine Zeit, in der keine Gardinen ein Zeichen für Anarchismus und Promiskuität war. Eine Zeit, in der Nachbarn gefürchtet wurden, und man alles daran setzte, den privaten Bereich der Wohnung nach Außen hin abzuschirmen. Eine Zeit, in der der soziale Druck deutlich höher war als heute.

Wer würde sich solche Zeiten zurückwünschen? Als ich letztens jedoch im Fenster einer Wohnung an einer großen Straße plötzlich einen Mann in Unterhose sah, dachte ich, dass „Scham“ auch ein positives Gefühl ist. Ein Gefühl, dass den Anderen als Anderen, als Subjekt wahrnimmt. Dass das Verschwinden (oder wahrscheinlicher: die Verschiebung) der Scham vor allem Ausdruck einer stärkeren Individualisierung ist. Der soziale Druck sinkt, die individuelle Freiheit steigt. Ohne Gardinen ist die Wohnung heller und die Aussicht ungestörter. Ja, man hat sogar das Gefühl, weniger isoliert und mehr ein Teil der Stadt zu sein, die man in jedem Moment durch die großen Scheiben sehen kann. Aber indem mir egal ist, was diejenigen, die mich in Unterhose von draußen sehen, denken und fühlen, ignoriere ich sie. Genauso, wie die Leute, die lautstark in der Bahn telefonieren, die anderen Fahrgäste ignorieren.

Doch dann stellt sich die Frage: Stört es heute überhaupt jemanden, wenn er nachts einen Mann in Unterhose am Fenster sieht? Schließlich ist jede Bushaltestelle mit einer BH- oder Unterhosenwerbung hell erleuchtet. Die Scham in diesem Bereich ist also nicht nur bei denen verschwunden, die sich, um in den alten Kategorien zu sprechen, „schamlos zeigen“, sondern auch bei denen, die ihn sehen und das nicht mehr als „schamlos“ empfinden. Aber wohin ist die Scham dann verschwunden? Und was bedeutet es, wenn der soziale Druck nachlässt, die Indifferenz zunimmt und es mich auch in anderer Hinsicht nicht mehr interessiert, was mein Nachbar macht?

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