Autor: Fokke Joel (Seite 6 von 12)

Mann und Frau stehen vor der Schaubühne

Seit dem Ende der Spielpause sehe ich immer wieder, wenn ich zum Café Schaubühne fahre, einen Mann und eine Frau vor der großen runden Glasfront des Theaters stehen. Die Frau ist sehr dünn, hat schulterlange, grau-schwarze Haare und ein zerfurchtes, abgemagertes Gesicht. Der Mann trägt Stoppelhaarschnitt und eine rechteckige Brille mit Silberrand. Beide sind in ein existentialistisches Schwarz gekleidet: schwarze Jacken, schwarze T-Shirts, schwarze Hosen, schwarze Schuhe. Sie scheinen etwa gleich alt zu sein, vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig. Ich habe sie noch nie Theaterkarten kaufen sehen. Mich würde auch nicht wundern, wenn sie noch nie im Café waren. Sie stehen einfach nur da und unterhalten sich. Manchmal raucht die Frau, manchmal steht sie nur vor dem Mann. Manchmal raucht der Mann. Beide sehen aus, als seien sie Überbleibsel aus dem Westberlin der siebziger oder achtziger Jahre.

Warum stehen sie dort? Um etwas von der Aura des Theaters zu spüren? Das Gefühl zu haben, ein Teil davon zu sein? Und damit dem Augenblick einen Sinn zu geben, das Gefühl zu haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein? Letztens tauchte Schaubühnenchef Thomas Ostermeier im Café mit einer blauen Arbeiterjoppe auf, ähnlich der, wie sie Brecht trug. Ironischerweise ließ sich der Erfinder des epischen Theaters die proletarische Kleidung von einem Maßschneider anfertigen. Aber scheinbar lässt sich auch Ostermeier vom Geist dieser Jacke inspirieren. Vielleicht weniger von deren proletarischem Geist als von dem des Augsburger Theatermachers. Und auch ich, der ich gerne im Café Schaubühne sitze, fühle mich inspiriert, entgehe damit für einen Augenblick dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Alltags.

Dass unsere Wirklichkeit bzw. das, was uns jeden Tag zu schaffen macht, mit diesem Geist wenig zu tun hat, liegt auf der Hand. Weder ich noch die Frau oder der Mann sind Teil des Theaters, genauso wenig wie Thomas Ostermeier Berthold Brecht ist. Und doch: Für den Mann und die Frau vor dem Theater ist die Verklärung durch die Aura des Theaters so real wie der Alltag, dem sie damit entgehen.

Die chinesische Mauer

Die Drachen waren schon von Weitem über den grasbewachsenen Dünen zu sehen. Als wir den Strand erreichten, sahen wir, dass sie an einer langen Leine hingen, deren Enden an kleinen Sandsäcken am Boden befestigt waren. In dem dadurch entstandenen etwa zwanzig Meter hohen Bogen befanden sich wiederum drei kleinere Bögen mit Drachen. Ließ der Wind nach, senkten sich die Bögen, wurde er stärker, erhoben sie sich wieder in den Himmel, an dem ein paar Wolken mit der Sonne um die Vorherrschaft stritten.

Wir waren schon ein kleines Stück an den Drachen vorbei, als uns ein Mann nachlief. Ich erkannte ihn, er hatte uns am Tag zuvor am Strand angesprochen. „Na, auf Bernsteinsuche?“, hatte er gefragt. Ein Däne, der – entgegen dem gängigen Klischee – sehr gesprächig war. Stämmiger Körper, braun gebrannt, oben auf dem Kopf eine kleine Tonsur, die bedrohlich rosa leuchtete. Er trug eine eckige Brille mit dünnem Metallrand, zeigte auf die Drachen und sagte: „Das habe ich und meine Familie konstruiert. Wir sind 28, 29 Mitglieder“. „Toll“, sagte ich ehrlich beeindruckt, und er erzählte weiter. „Wir haben das für das Drachenfestival auf Fanö gebaut.“ Er begann mit einem Stock Halbkreise im Sand zu zeichnen. „Aber hier, viel größer, nicht mit vier Bögen, sondern mit fünf, und dann fünf Reihen hintereinander. Da kam dann ein Deutscher, der sagte: »Was habt ihr doofen Dänen da denn gemacht?«“ Er lachte. „»Das ist ja wie der Kölner Dom.«“

A. kümmerte sich um E., die über den Strand rannte und mit einem Ball spielte, der unten an einer der Leinen der Drachenkonstruktion befestigt war. Wir sahen den beiden eine Weile zu. Dann fragte ich: „Woher können sie denn so gut Deutsch?“ „Ich komm aus Sonderburg“, antwortete er. „Da ist Deutschland nicht weit.“ Mir fiel ein, dass vor Sonderburg, an den Düppeler Schanzen, 1864 die entscheidende, von den preußischen Truppen gewonnene Schlacht gegen Dänemark stattgefunden hatte. Danach wurde nach zweihundert Jahren dänischer Herrschaft Schleswig-Holstein preußisch. Etwas weiter unten am Strand lag außerdem, halb im Wasser eingesunken, einer der 8.000 Bunker, die das Deutsche Reich während der Besetzung Dänemarks im 2. Weltkrieg entlang der Nordseeküste bis zum Ärmelkanal gebaut hatte. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Dänen waren lange feindlich gewesen.

„Gut, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Dänen so gut geworden ist“, sagte ich. „Das war ja mal anders.“ Ich zeigte auf den Bunker, der wie ein schwarz-grauer Felsen aus dem Meer herausragte. „Ach, den Krieg meinen sie. Zum Glück hab ich damit nichts mehr zu tun. Ich bin 1947 geboren. Aber meine Mutter, die hatte elf Geschwister. Die eine Hälfte hatte“, er suchte nach dem Wort und ich half ihm: „Sympathien“. „Ja, die hatten Sympathien mit den Deutschen, die andere Hälfte war dänisch. Erst bei meiner Konfirmation, 1961, ist die ganze Familie wieder zusammengekommen. Das erste Mal seit dem Krieg.“

„Schon komisch“, sagte ich. „In tausend Jahren werden wahrscheinlich alle heutigen Bücher und Bilder verschwunden sein. Aber diese bescheuerten Bunker werden noch stehen. Obwohl sie völlig sinnlos waren. Am D-Day haben die Alliierten am Ärmelkanal nur ein paar Stunden gebraucht, um sie zu überwinden.“ Ich dachte einen Moment lang nach. Dann sagte ich: „Im Grunde wie die chinesische Mauer. Die war auch ein Flop. Die konnte auch nicht verhindern, dass die Nomadenstämme aus dem Norden nach China eindrangen. Und heute steht sie immer noch da und ist Touristenattraktion.“

Herr Poljakow

Herr Poljakow hatte etwas Geisterhaftes. Über seinen Pyjama zog er immer ein hellblau gepunktetes Krankenhausnachthemd, das er umständlich hinten zusammenband. Das Resultat schien ihn jedes Mal sehr zu befriedigen, denn niemals ging ihm die Geduld dazu aus. Wenn er dann zwischen den Betten auf und ab ging, flatterten die Enden des Nachthemds an seinem dünnen, nach vorne gebeugten Körper im Wind. Oft sprach er leise vor sich hin, mit seiner hohen Stimme und auf Russisch. In solchen Momenten schien er in einer anderen Zeit an einem anderen Ort zu sein, vielleicht in Moskau, wo er bis vor acht Jahren gelebt hat.

Einmal hielt er plötzlich vor meinem Bett an und sagte er etwas zu mir. Als ich erwiderte, dass ich kein Russisch verstünde, erwiderte er: „Ach ja, ich hab nur gesagt, die Luft ist hier so trocken, deswegen huste ich so viel.“ Ich hatte ihn allerdings gar nicht husten hören; vielleicht war auch das mit einem Erlebnis aus einer anderen Zeit verbunden. Auf jeden Fall schien er noch in Kontakt zu stehen mit seinem anderen Leben. Er erzählte mir, dass er in Moskau Lektor für Englisch in einem wissenschaftlichen Verlag gewesen war, aber dann, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, blieben die staatlichen Subventionen für Verlage aus und er verlor seinen Job. Er schien sehr sprachbegabt zu sein, denn sein Deutsch, das er erst nach seinem Umzug nach Dresden zu lernen begonnen hatte, war grammatikalisch ungewöhnlich korrekt. Die Aussprache allerdings ließ zu wünschen übrig; offenbar waren die Laute irgendwo zwischen Moskau und Berlin hängengeblieben.

Wie ich las Herr Poljakow gerne Zeitung. Jeden Morgen ging er den Gang hinunter und holte die Freiexemplare, die dort auf der Fensterbank lagen. Auch diese Aufgabe wie die Hilfe für Herrn Constantini nahm er mit ironischem Ernst wahr. Als ihm einmal einfiel, dass er keine Zeitungen geholt hatte, sprang er von seinem Bett auf und sagte mit gespielter Empörung: „Ich habe meine Pflicht vergessen!“ Manchmal brachte er drei unterschiedliche Blätter mit und wir waren den ganzen Morgen mit Lesen beschäftigt.

Ich mochte Herrn Poljakow, was nicht ganz einfach war, denn als er nach dem Auszug von Herrn Kowalski das Bett mir gegenüber belegte, war das erste, das er mich fragte: „Meinen Sie nicht auch, dass es zu viele Flüchtlinge gibt?“. Mit seinem länglichen Kopf und dem dünnen Haarkranz stand er in seinem Krankenhausnachthemd vor meinem Bett. Überrascht und irritiert sah ich ihn an, und wusste im ersten Moment wieder nicht, was ich sagen sollte. Dann fragte ich, warum und woher er das so genau wüsste. Daraufhin sagte er nur: „Haben Sie gesehen, vorne am Eingang stehen auch welche.“

Zwei Schwestern

Ich saß im Café Schaubühne und las Zeitung, als sich plötzlich zwei Frauen an meinen Tisch setzten. Die eine trug eine graue Pelzjacke, unter der ein Rock hervorschaute. Sie duftete nach Parfum. Die andere hatte ebenfalls einen Rock an, trug aber eine rote Jacke. Beide sahen sich so ähnlich, dass sie eineiige Zwillinge sein mussten: den gleichen stemmigen Körper, das gleiche kantige, sehr männliche Gesicht, das von der gleichen Kurzhaarfrisur mit Pony eingerahmt wurde. Die mit der roten Jacke sagte zu ihrer Schwester, sie solle ihr ein Glas Wasser holen, und setzte sich auf die Bank mir schräg gegenüber. Kaum dass sie saß, fing sie an zu weinen. Was würde jetzt passieren, fragte ich mich, warum habe ich mich nur an einen der Vierertische gesetzt. Da kam die Frau in der Pelzjacke zurück und stellte ihrer weinenden Schwester das Glas Wasser hin. Die wiederum stand auf, machte ein ernstes Gesicht und sagte: „Du setzt dich jetzt da mal hin“. Sie zeigte auf den Platz neben mir, nahm wieder den Platz gegenüber ein und weinte weiter. Aber einen Augenblick später erhob sie sich wieder, nahm ihre Schwester beim Arm, setzte sie neben sich auf die Bank und sagte: „Du hörst mir jetzt mal zu.“ Dann begann sie auf ihre Schwester einzureden. Ich verstand zunächst nichts, weil sie sehr undeutlich sprach.

Ich versuchte weiter zu lesen. Aber es ist schwer, jemandem nicht zuzuhören, der am selben Tisch sitzt, weint und zwischendurch, immer lauter werdend, mit jemandem schimpft, selbst wenn man nichts versteht. Die Frau mit der Pelzjacke blieb zunächst stumm. Ihre Schwester war offenbar diejenige, die sagte, wo es langgeht. Aber genau das schien auch das Problem zu sein. „Ich will endlich mein Leben zurückhaben“, verstand ich, „ich kann nicht ständig auf dich aufpassen.“ Danach stand sie auf, sagte, „warte hier“, und ging nach draußen. Blitzschnell drehte sich die Frau mit der Pelzjacke zu mir um und redete los. Auch sie war schwer zu verstehen, ich verstand nur, „Aber dafür muss man mich doch nicht in der Wohnung einsperren!“ Im nächsten Moment kam ihre Schwester wieder herein und sagte streng, „Lass den Mann in Ruhe!“, setzte sich und sagte dann noch einmal, „Lass den Mann in Ruhe!“ Danach begann sie wieder zu weinen.

Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen. Aber was? Eingreifen und schlichten? Aber ich kannte die beiden ja gar nicht. Dann begann sich die Frau in der grauen Pelzjacke, die ja bisher geschwiegen hatte, zu verteidigen. Ich verstand wieder nichts, sah nur, wie aufgebracht ihre Schwester jetzt wurde, wie sie die Hände zu Fäusten geballt nach unten schlug und mit unterdrückter Stimme „nein, nein, nein!“ sagte. Die Frau in der grauen Pelzjacke wurde jetzt lauter, woraufhin sie ihre Schwester mit „nicht so laut, nicht so laut“ ermahnte. Sie selbst wurde dann allerdings auch laut. Langsam bekam ich Angst, dass die beiden aufeinander losgehen würden, aber es blieb nur bei Worten und Gesten.

Ich sah mich um. Etwa die Hälfte der Tische im Café waren besetzt. Im gleichen Moment sah mich die Frau mit der roten Jacke an und fragte: „Sind wir zu laut? Stören wir Sie?“ „Nein, nein“, log ich. Ihr Gesicht hatte sich von einer Sekunde auf die andere völlig entspannt und verwundert bemerkte ich, dass keine Tränen zu sehen waren. Spielte sie vielleicht nur Theater? Ihr Blick riss sie zumindest aus ihrer Rolle, zurück in die wohltemperierte Stimmung des Cafés. Dann ging der Streit von Neuem los.

Das Café ein Ort, in dem man allein sein kann ohne einsam zu sein. Aber irgendwie fühlte ich mich jetzt einsam.

Plötzlich tauchte ein Mann hinter mir auf, Ende fünfzig, weiße Haare und Brille. Er sagte zu den beiden: „Sie müssen sich doch nicht streiten. Sie haben doch beide recht.“ Ich dachte: Das ist auch keine Lösung und versuchte weiter zu lesen. Irgendwann trank ich dann meinen Kaffee aus und packte meine Sachen zusammen. „Wir haben Sie doch jetzt nicht vertrieben?“, fragte die Frau in der roten Jacke. „Nein, nein, ich muss sowieso gehen“, sagte ich, was halb stimmte, halb eine Lüge war. „Wir haben Sie doch nicht vertrieben“, wiederholte sie. Wieder sah sie mich völlig gefasst an, obwohl sie eine Sekunde vorher noch vor Wut getobt hatte.

Das Haus und das Gebüsch

Viele Bilderbücher entfalten für mich einen geheimnisvollen Sog. Dabei spielt ihr künstlerische Wert keine Rolle. Sie können ruhig kitschig sein, wichtig ist nur, dass sie wenig zeigen. Wimmelbücher beispielsweise funktionieren nicht. Außerdem ist es wichtig, dass das, was zu sehen ist, eine gewisse Räumlichkeit entwickelt, wie eine hügelige Wiese mit Tieren, einem kleinen Haus und einem Gebüsch. Wobei die Tiere uninteressant sind, interessant sind für mich das Haus und das Gebüsch. Außerdem sollte es nicht zu viele Details geben. Je einfacher alles gezeichnet ist desto besser. Allerdings muss schon der kleinste gemeinsame Nenner der Dinge getroffen sein. Abstrakte Bilder funktionieren auch nicht. Das Gebüsch muss als Gebüsch, das Haus als Haus erkennbar sein. Wenn dann alle Faktoren stimmen – und sie stimmen bei vielen Bilderbüchern – stellt sich mir jedes Mal, wenn ich eines aufschlage, unwillkürlich die Frage: Was befindet sich in diesem Haus, was befindet sich hinter diesem Gebüsch? Die Antwort bleibt dabei ein Geheimnis. Denn wer könnte über die Wiese gehen, wer könnte die Tür des Hauses öffnen, wer könnte hinter das Gebüsch sehen?

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