Herr Poljakow

Herr Poljakow hatte etwas Geisterhaftes. Über seinen Pyjama zog er immer ein hellblau gepunktetes Krankenhausnachthemd, das er umständlich hinten zusammenband. Das Resultat schien ihn jedes Mal sehr zu befriedigen, denn niemals ging ihm die Geduld dazu aus. Wenn er dann zwischen den Betten auf und ab ging, flatterten die Enden des Nachthemds an seinem dünnen, nach vorne gebeugten Körper im Wind. Oft sprach er leise vor sich hin, mit seiner hohen Stimme und auf Russisch. In solchen Momenten schien er in einer anderen Zeit an einem anderen Ort zu sein, vielleicht in Moskau, wo er bis vor acht Jahren gelebt hat.

Einmal hielt er plötzlich vor meinem Bett an und sagte er etwas zu mir. Als ich erwiderte, dass ich kein Russisch verstünde, erwiderte er: „Ach ja, ich hab nur gesagt, die Luft ist hier so trocken, deswegen huste ich so viel.“ Ich hatte ihn allerdings gar nicht husten hören; vielleicht war auch das mit einem Erlebnis aus einer anderen Zeit verbunden. Auf jeden Fall schien er noch in Kontakt zu stehen mit seinem anderen Leben. Er erzählte mir, dass er in Moskau Lektor für Englisch in einem wissenschaftlichen Verlag gewesen war, aber dann, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, blieben die staatlichen Subventionen für Verlage aus und er verlor seinen Job. Er schien sehr sprachbegabt zu sein, denn sein Deutsch, das er erst nach seinem Umzug nach Dresden zu lernen begonnen hatte, war grammatikalisch ungewöhnlich korrekt. Die Aussprache allerdings ließ zu wünschen übrig; offenbar waren die Laute irgendwo zwischen Moskau und Berlin hängengeblieben.

Wie ich las Herr Poljakow gerne Zeitung. Jeden Morgen ging er den Gang hinunter und holte die Freiexemplare, die dort auf der Fensterbank lagen. Auch diese Aufgabe wie die Hilfe für Herrn Constantini nahm er mit ironischem Ernst wahr. Als ihm einmal einfiel, dass er keine Zeitungen geholt hatte, sprang er von seinem Bett auf und sagte mit gespielter Empörung: „Ich habe meine Pflicht vergessen!“ Manchmal brachte er drei unterschiedliche Blätter mit und wir waren den ganzen Morgen mit Lesen beschäftigt.

Ich mochte Herrn Poljakow, was nicht ganz einfach war, denn als er nach dem Auszug von Herrn Kowalski das Bett mir gegenüber belegte, war das erste, das er mich fragte: „Meinen Sie nicht auch, dass es zu viele Flüchtlinge gibt?“. Mit seinem länglichen Kopf und dem dünnen Haarkranz stand er in seinem Krankenhausnachthemd vor meinem Bett. Überrascht und irritiert sah ich ihn an, und wusste im ersten Moment wieder nicht, was ich sagen sollte. Dann fragte ich, warum und woher er das so genau wüsste. Daraufhin sagte er nur: „Haben Sie gesehen, vorne am Eingang stehen auch welche.“

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