Doppelkopf

Jedes Mal, wenn meine Großeltern zu Besuch kamen, wurde abends Doppelkopf gespielt. Das Kartenspiel, bei dem jeweils zwei gegen zwei antreten, hatte Tradition in unserer Familie. Gespielt wurde protestantisch korrekt nicht um Geld. Was allerdings nicht ganz stimmt, denn meine Eltern hatten in einer Metalldose alte Pfennige gesammelt, die an die jeweiligen Gewinner verteilt wurden. Einige waren seltsam grau angelaufen. Sie stammten aus einer anderen Zeit.

Da wir zusammen mit meiner Schwester sechs Personen waren, aber nur vier Spieler benötigt wurden, konnten jeweils zwei nicht mitspielen. Manchmal fehlte aber auch ein Spieler. Meine Schwester, die sehr viel lieber spielte als ich, versuchte mich dann, zum Mitmachen zu überreden. Meistens gelang ihr das auch.

Wir saßen in der warmen Stube um den niedrigen Couchtisch herum. Draußen war es kalt, denn es war meist die Zeit um Weihnachten herum, wenn meine Großeltern zu Besuch kamen. Ich mochte sie sehr und ich mochte Weihnachten, natürlich vor allem wegen der Geschenke. Wir sortierten unsere Karten, dann wurde ausgelost, wer anfangen durfte. Meistens dauerte es nicht lange, bis meine Abneigung gegen das Kartenspielen dem Ehrgeiz zu gewinnen gewichen war. Hatte ich ein gutes Blatt, befand ich mich schnell im Siegesrausch. Wenn ich einen Stich machen konnte, zog ich mein Ass oder meinen Trumpf und sagte: „Wetten, dass wir gewinnen!“

Ich weiß nicht mehr, ob es meine Großmutter war oder mein Großvater, aber oft kam dann der Satz, den auch meine Mutter später manchmal sagte, dessen wirkliche Bedeutung ich damals nicht verstand. Aber ich habe ihn nicht vergessen: „Wetten tun nur Juden, die kein Geld haben.“

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Stadttheater Kalbe (Milde)

Eine Stadt wie ein Theaterkulisse: Häuser, Straßen, Bäume, aber kaum Menschen. Vielleicht lag es an der warmen Jahreszeit, dass die Leute hier nur für das Nötigste auf die Straße gingen. Vielleicht saßen sie in ihren Gärten, die sich wie Handtücher hinter den Häusern zur Milde hin zogen.

Viele der Häuser standen leer. Die Fenster schwarz, ohne Gardinen. Auf einigen Dächern fehlten schon Ziegel. Manchmal konnte man die alten Inhaber, ihr Geschäft, an einer verblichenen Wandschrift ablesen. Als wir in das alte Gerichtsgebäude traten, dass der Verein „Künstlerstadt Kalbe“ der Stadt für einen symbolischen Preis abgekauft hatte, traten wir in eine Kulisse. Man hätte hier ohne großen Aufwand einen historischen Film über die DDR drehen können. In einem der hinteren Räume standen alte graue Wahlurnen, die das Räumkommando nach der Wende wohl vergessen hatte. Die Stühle daneben hätten gut in den Palast der Republik gepasst. In der ehemaligen Arrestzelle hing das Gitter noch vor dem Fenster. Auf der hölzernen Pritsche hatten die Delinquenten auf ihren Prozess gewartet.

Weiter unten in der Stadt, in einem Zeitungsladen, sah es auch mehr nach einer Inszenierung eines Zeitungsladens aus, als nach einem Ort des Warenaustauschs. Außer einer Auswahl Zeitschriften gab es auf den spärlich belegten Stahlregalen ein Sammelsurium aus kleinen Porzellanfiguren, einer Auswahl Spielsachen und Bilderbüchern. Wir wollten eine Tageszeitung kaufen. Aber auf einem der Regale lag nur jeweils ein Exemplar des „Gardelegener Kreisanzeigers“ und der „Salzwedeler Volksstimme“. Ich suchte weiter nach einem überregionalen Blatt. Doch U., der über das Potentiale-Festival für imporivisierte Musik berichteten wollte, kam es gerade auf die Lokalblätter an. „Steht denn da was über das Potentiale-Festival drin?“, fragte er die Verkäuferin, die hinter einem Tresen stand. Sie nahm eine der beiden Zeitungen in die Hand und blätterte sie durch. U. suchte in der anderen. Immerhin, in beiden stand etwas.

„Gehen Sie auch zum Festival?“, fragte U. „Nö“, sagte die Verkäuferin. Es entstand eine lange Pause. Dann fragte er weiter. „Nicht viel los hier, was macht man denn so abends?“ „Na ja, einer hat immer Geburtstag. Feuerwehrfest und so.“ Wieder gab es eine lange Pause. Die Frau stand hinter ihrem Tresen und bewegte sich nicht. Mir schien, dass sie sich unwohl fühlte. Offenbar wartete sie nur darauf, dass wir wieder gingen. Ich drängte zum gehen.

Es war bald Mittag, die Sonne schien grell wie ein Scheinwerfer vom Himmel. Im Dönerimbiss, wo wir etwas aßen, waren wir die Einzigen. Erst im „Cafe Friedenseck“, das uns zwei Teenager zum Eisessen empfohlen hatten, wurde es belebter. Wir aßen Eis und nach dem Zahlen sprach uns die Kellnerin an. „Ihr seid doch auch auf dem Potentiale-Festival, oder?“, sagte sie. „Hab ich gleich erkannt.“ Es stellte sich heraus, dass sie ursprünglich aus Berlin stammt und sich in einem der Nachbardörfer billig ein Haus mit Garten gekauft hatte.

U. fragte sie, warum die Leute aus der Stadt nicht auf dem Festival sind. „Ich frag ja schon immer die Kolleginnen“, antwortete sie. „Aber die interessiert das nicht.“ Sie sah sich um und wandte sich dann leise an uns. „Wenn Feuerwehrfest ist, dann sind sie alle da. Und saufen. Am nächsten Morgen rufen sie dann an, dass sie nicht kommen können, weil es ihnen schlecht geht.“

Für die Kalber ist es umgekehrt. Nicht ihre Stadt ist das Theater, sondern das Festival. Da steht neben der Kirche ein altertümliches Zelt, vor dem ein orientalischer Teppich liegt. Daneben befindet sich eine mobile Schmiedewerkstadt, in der man an einem kurzen Workshop das Schmieden lernen kann. Die alte Scheune, in der erst Heu und Stroh gelagert und die danach zur Garage umfunktioniert worden war, wird Musik gespielt. Schräge Musik, von komischen Leuten besucht, die von woanders kommen. Aus größeren Städten, weit weg vom Alltag der Stadtbewohner, ihren Wünschen und Problemen.

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Miteinander reden

Auf dem Festival für improvisierte Musik in Kalbe, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, stand neben der Kirche ein Zelt. Das eher altertümliche Modell hatte Sebastian, der in Leipzig und Schanghai Philosophie studiert hatte, zusammen mit einem Freund dort aufgestellt. In der Mitte befand sich ein kleines Regal mit einer Auswahl von Büchern. Die „Traurigen Tropen“ des französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss lag da neben Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ und Edward W. Saids „Orientalism“. Auf der rechten Seite gab es einen Wasserkocher und einen kleinen Espressoautomaten. Jeder der Festivalteilnehmer konnte sich einen Kaffee oder einen Tee machen lassen. Wir saßen vor dem Zelt auf einem großen alten Teppich mit orientalischem Muster und unterhielten uns.

Lisa erzählte, dass sie in Görlitz wohnt. „Oh“, sagte ich, „gerade noch am AFD-Bürgermeister vorbeigeschrammt.“ Sie lachte und berichtete, dass sie zusammen mit ein paar Freundinnen letztens auf dem AFD-Frauenabend gewesen wäre. Das sei schon schräg gewesen. Erst wären sie reingegangen, aber schnell wieder draußen gewesen. Die Klappen auf beiden Seiten seien gleich runtergangen, hier wir – da ihr. Aber dann hätten sie einen weiteren Versuch unternommen, und am Ende drei Stunden lang mit den AFD-Frauen geredet.

Mia, die gerade hinzugekommen war, sah sie an und sagte: „Das finde ich toll, dass ihr mit denen geredet habt. Echt toll.“ Sie erzählte, dass sie in Duisburg-Nord aufgewachsen ist. Nach längerer Zeit sei sie dorthin zurückgekehrt. Alles wäre verändert gewesen. Libanesische Clans hätten den ganze Stadteil in der Hand. „Und die Polizei macht nichts.“

Ich sagte, dass ein entscheidendes Problem bei der ganzen Diskussion über Kriminalität die Verallgemeinerung der eigenen Erfahrungen sei. Die Kriminalitätsrate in Deutschland gehe ständig zurück, aber die Leute hätten subjektiv das Gefühl, dass es hier immer gefährlicher werde.

Nein, dass sehe sie nicht so. „Die schicken ihre Zwölfjährigen los, weil die nicht verurteilt werden können. Die terrorisieren die Bevölkerung.“ Ihrer Mutter hätten sie eine Bombe ins Wohnzimmer geschmissen. Und sie werde auf der Straße von den Clan-Kindern angespuckt.

Ich erwiderte, dass es im Grunde zu spät sei. Diese Leute, die zum überwiegenden Teil Palästinenser sind, wären während des libanesischen Bürgerkriegs in den 1970er Jahren nach Deutschland geflohen. Sie seien jahrzehntelang staatenlos gewesen und hätten jeden Tag mit Abschiebung rechnen müssen. Sie durften jahrelang nicht arbeiten. Das einzige, auf das sie sich verlassen können, sind ihre Familien. Und die einzige Möglichkeit aus der Armut herauszukommen die Kriminalität. Das entschuldigt nichts, aber man hätte vorher etwas anders machen müssen.

Nein, dass sei ganz falsch, so zu denken, sagte Mia. Sie wäre mal zum Integrationsamt der Stadt gegangen und hätte denen von den Zuständen in Duisburg-Nord erzählt. „Die haben gesagt, dass sei eine rassistische Auffassung. Ich, die ich mit einem Kroaten verheiratet gewesen bin, soll eine Rassistin sein?“

„Wenn man euch so zuhört“, sagte daraufhin Sebastian, „dann könnte man zu der Auffassung kommen, die Polizei wäre regelrecht migranten- und ausländerfreundlich.“

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Ich spreche ihre Sprache

„Ich hab zwei Töchter“, sagte Herr Inkanowa. „Die eine war gerade da, der Mercedes“. Er hob seine Arme und bildete mit ihnen einen großen Kreis vor seiner Brust. „Die andere ist groß, kommt manchmal abends.“ Die, die gerade da war, kam jeden Tag zusammen mit Herrn Inkanowas Frau. Wie Herrn Bayraks Tochter begrüßte sie ihren Vater mit einem Kuss auf die Stirn, während sich Herrn Inkanowas Frau gleich auf den Stuhl neben das Bett setzte. Beide halfen ihm, die Windeln zu wechseln. Die Windel enthielt nur Urin, deshalb warf Herr Inkanowas Tochter sie, wie die Krankenpfleger das aucht taten, in den Abfalleimer neben der Tür.

Das hatte Herr Kowalski gesehen. Als kurz darauf eine Krankenschwester ins Zimmer kam, sagte er zu ihr: „Die hat jerade die volle Windel in den Papierkorb jeschmissen.“ Er sagte das so laut, dass es die Tochter von Herrn Inkanowa mitbekam. „Ich spreche ihre Sprache“, sagte sie. „Das können sie auch mir sagen.“

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Business Lunch

Auf dem Ku‘damm gibt es ein neues vietnamesisches Restaurant. Es bietet einen Mittagstisch an, der hier in der Gegend „Business Lunch“ heißt. An dem Tag, an dem A. und ich das Restaurant ausprobierten, war es gut besucht. Aber wir fanden noch zwei Plätze.

Wir hatten gerade zu essen begonnen, da setzten sich zwei Männer an das andere Ende des langen Tisches. Die Stimme des einen stach sofort laut und deutlich aus dem Lärm des kleinen Restaurants hervor. Ich schaute auf und sah zu ihm hinüber. Ein großer, schlanker Mann, vielleicht Mitte vierzig, mit kurz geschnittenem, dynamisch nach oben geföhnten Scheitel. Er trug ein beiges Jackett, darunter ein offenes weißes Hemd. Damit fiel er fast schon auf unter den zumeist in Anzug, Schlips und Kragen gekleideten Männern im Restaurant. Sein Gegenüber kleiner und unscheinbarer, mit leicht aufgedunsenem Gesicht, vielleicht zehn Jahre jünger.

Als die Bedienung kam, guckte der unscheinbare Mann in die Karte. Der mit der lauten Stimme blickte kurz auf und sagte: „Zwei Mal Suppe, süß-sauer, und zwei mal Reis mit Hähnchen.“ Dann schaute er wieder auf sein Handy und wischte mit dem Finger über den Bildschirm. Die Bedienung zögerte, wusste offenbar nicht, was sie auf ihren Block schreiben sollte. Dann fragte sie nach, was ich wegen des Lärms nicht verstand, aber sie zeigte auf die Karte. „Na das, was es bei allen Asiaten gibt. Hähnchen mit dieser roten, scharfen Soße. Und Wasser bitte.“ Es dauerte noch eine Weile, bis die Bedienung die Bestellung mit einem der angebotenen Gerichte verknüpft hatte. Dann ging sie wieder.

Kaum hatte sich die Frau abgewandt, sagte der Mann mit der lauten Stimme: „Also, rechnen wir hundert Quadratmeter, mal 6.000 Euro, sind 600.000. Mit 100.000 Eigenkapital und 3,3 Prozent, das sind 1375 Euro pro Monat. Die Wertsteigerung geht auf Dich. Zum Beispiel mein Dachgeschoß. Hat 300 Quadratmeter. Die hab ich für 1,2 Millionen gekauft, ist jetzt 3,2 wert.“

Eine Reihe weiter, an dem Tisch in der Ecke, hatte sich eine Frau gesetzt und tippte etwas in ihr Smartphone. Ein Mann, Anfang fünfzig, legte seinen Mantel auf die Sitzbank ihr gegenüber, wandte sich aber dem Mann mit der lauten Stimme an unserem Tisch. Er zeigte ihm eine Broschüre mit dem Titel „Immobilien-Börse“. Darauf war ein Foto mit einem großen Haus mit mehreren Stockwerken zu sehen. Der Mann mit der lauten Stimme sah in die Broschüre und gab leise Kommentare ab.

Dann waren die beiden an unserem Tisch wieder alleine. Wir waren gerade fertig mit dem Essen, als der laute Mann plötzlich zu uns herübergriff, unseren Besteckkorb hochriss, und ihm einen Löffeln entnahm.

Als wir gingen, hörte ich ihn noch sagen: „Petra ist ja immer so streitsüchtig“.

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