Schlafwagen I

Der Zug fuhr lautlos in den Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen ein. Auch der Lautsprecher, der sonst die Züge ankündigte, blieb stumm. Auf dem blauen Bildschirm der Anzeigentafel stand „Wien“. Ich wollte aber nach Przemysl (ungefähr „Pschemüschel“ ausgesprochen). In der kleinen polnischen Stadt an der Grenze zur Ukraine musste ich in den Zug nach Lemberg umsteigen. Das war das eigentliche Ziel meiner Reise.

Ich verglich die Zugnummer der Anzeige mit der auf meiner Fahrkarte. Sie stimmten überein. Und ich hatte Glück, schon nach dem zweiten Waggon, an dem ich entlang ging, stand der Kurswagen nach Przemysl. Doch als ich einsteigen wollte, war die Tür verschlossen. Also stieg ich in den vorherigen Waggon. Aber auch die Tür zwischen den Waggons war zu. Als ich wieder auf dem Bahnsteig stand, sah ich den Schlafwagenschaffner am anderen Ende stehen. Ein alter Mann, vielleicht Ende sechzig, Anfang siebzig, mit zerfurchtem Gesicht und  melancholischem Blick.

„Guten Abend“, sagte ich.

Er schwieg, zeigte nur auf die Fahrkarte, die ich in der Hand hielt. Ich reichte sie ihm, dann machte er ein Zeichen, dass ich einsteigen sollte. Als ich nach der Fahrkarte greifen wollte, zog er sie zurück. „Platz 51“ sagte er.

Ich nahm meinen Koffer und stieg ein. Im Gang war nur das leise Summen der Lüftung zu hören. Die weiße Resopalwand mit den Türen zu den Abteilen erinnerte an die Umkleidekabinen bei Röntgenärzten. Platz 51 befand sich am anderen Ende des Waggons. Als ich die Tür zum Abteil öffnete, sah ich, dass die drei Betten bereits runtergelassen waren. Es war erst kurz kurz vor 19 Uhr, normalerweise wurden die Kabinen erst sehr viel später für die Nacht hergerichtet, damit die Fahrgäste noch sitzen konnten. Jetzt gab es nur noch einen kleinen Sitz unter dem Fenster. Vielleicht würde ich allein bleiben, was mir ganz recht war. Ich schien sowieso der einzige Reisende in diesem Waggon zu sein. Zumindest war ich allein eingestiegen und hörte auch sonst niemanden.

Doch dann, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte, rumpelte es im Nachbarabteil. Auf dem Weg zur Toilette sah ich durch die offene Tür des Abteils eine junge Frau mit brünetten lockigen Haaren. Sie saß auf der unteren Liege und sortierte ihre Sachen. Ich sagte „Hallo“. Sie sah auf, erwiderte aber nichts. Auf der Toilette stellte ich fest, dass zwar die Toilettenspülung funktionierte, aber kein Wasser aus dem Hahn über dem Waschbecken kam. Unwillkürlich war ich aufgebracht, was mir sonst selten passiert, und als ich wieder an der offenen Tür zum Nachbarabteil vorbeiging, dachte ich, ich sollte etwas sagen.

„Das Wasser in der Toilette funktioniert nicht. Nur die Toilettenspülung.“

Die Frau schaute auf und sagte: „Ach“.

Weil sie nichts weiter sagte, ging ich wieder in mein Abteil. Ich verriegelte die Tür, wusch mir in dem kleinen Waschbecken die Hände und setzte mich ans Fenster. Draußen flogen bereits die Häuser der Berliner Vororte vorbei. Wir waren schon auf freier Strecke, als sich der Türgriff lautlos nach unten bewegte. Als ich aufstand und öffnete, sah ich auf dem Gang nur noch die Tür zum anderen Waggon zuklappen. War es der melancholische Schaffner gewesen?

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Trinken Sie ruhig Ihr Bier!

„Trinken Sie ruhig ihr Bier!“, rief Madame Nielsen quer durch das Café Schaubühne.

Ich schreckte auf, dachte, jetzt werde ich Teil einer Performance. Denn Madame Nielsen ist eine dänische Autorin und Performancekünstlerin.  Sie sieht, ehrlich gesagt, ein bisschen wie ein Gespenst aus. Deswegen hatte ich sie auch gleich erkannt. In ihrem magersüchtigen Gesicht sind die Backen so eingefallen wie aufgeblähte Segel im Wind. Und wenn sie ihre dunklen, tief in den Augenhöhlen liegenden Augen aufreißt, möchte man sich am liebsten unter der nächsten Bettdecke verkriechen. An diesem Abend trug sie einen femininen Hut, den sie damenhaft aufbehalten hatte. Ihre schwarz eingefasst Brille sah dagegen eher männlich aus.

Vielleicht eine Erinnerung an die 1980er Jahre, als Madame Nielsen noch ein Mann war, und unter dem Namen Claus Beck-Nielsen in einer Rockband Bass spielte. Später änderte Claus Beck-Nielsen dann seinen Namen in Helge Bille und arbeitete als Autor und Performancekünstler. In einer Firma namens „Das Beckwerk“ war er ab 2002 als namenloser Mitarbeiter angestellt und musste alle Entscheidungen des Unternehmensvorstands, bestehend aus Künstlern, Schriftstellern, Architekten und einem Richter, ausführen. In seiner bisher letzten Verwandlung änderte Helge Bille dann 2011 seinen Namen auf „Madame Nielsen“. „Ich bin“, soll sie einmal gesagt haben, „viel schöner als Frau, denn als magerer älterer Herr“. In Diskussionen verwehrt sich Madame Nielsen immer gegen jegliche identitäre Zuschreibung.  Selbst die Transgender-Bewegung findet sie lächerlich. Für sie ist das auch nur eine weitere Schublade.

„Ja wirklich“, sagte sie nochmals, „trinken Sie ruhig. Ich würde auch Bier trinken, wenn ich nicht diese Apfelschorle trinken müsste, die mir der Herr neben mir ausgegeben hat. Die ist Bio, bestimmt mit Dinkel.“

Die Vorstellung lief, wir waren außer der Bedienung hinter dem Tresen allein im Café. Im ersten Moment fragte ich mich, an wen sich Madame Nielsen gewandt hatte. Bis mir einfiel, dass hinter mir, in der Ecke am Eingang, ein Mann saß, den ich dort fast jeden Abend sah, wenn ich ins Café Schaubühne ging. Er trug eine dunklen Jacke, die er nie auszog, und trank aus einer Bierdose, die er aus einem Rucksack neben seinem Stuhl zog und danach darin wieder verschwinden ließ. Vielleicht war er obdachlos, vielleicht einfach nur arm und einsam. Das Café tolerierte ihn offenbar, zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, dass niemand etwas bemerkt hatte. Madame Nielsen saß ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite des Cafés auf einer Bank am Fenster. Der Mann neben ihr, das wusste ich, war ein Mitarbeiter der Schaubühne. Er hatte die ganze Zeit auf sie eingeredet.

„Sie sind ein Schauspieler“, sagte der Mann.

„Nein, nein. Sehen Sie dort“, – Madame Nielsen zeigt auf die Lichtkästen mit Bildern der Aufführungen der Schaubühne –, „das sind Schauspieler.“

„Sie sind bestimmt Schauspieler“.

„Nein, ich meine es ernst. Trinken Sie ruhig Ihr Bier.“

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Doppelkopf

Jedes Mal, wenn meine Großeltern zu Besuch kamen, wurde abends Doppelkopf gespielt. Das Kartenspiel, bei dem jeweils zwei gegen zwei antreten, hatte Tradition in unserer Familie. Gespielt wurde protestantisch korrekt nicht um Geld. Was allerdings nicht ganz stimmt, denn meine Eltern hatten in einer Metalldose alte Pfennige gesammelt, die an die jeweiligen Gewinner verteilt wurden. Einige waren seltsam grau angelaufen. Sie stammten aus einer anderen Zeit.

Da wir zusammen mit meiner Schwester sechs Personen waren, aber nur vier Spieler benötigt wurden, konnten jeweils zwei nicht mitspielen. Manchmal fehlte aber auch ein Spieler. Meine Schwester, die sehr viel lieber spielte als ich, versuchte mich dann, zum Mitmachen zu überreden. Meistens gelang ihr das auch.

Wir saßen in der warmen Stube um den niedrigen Couchtisch herum. Draußen war es kalt, denn es war meist die Zeit um Weihnachten herum, wenn meine Großeltern zu Besuch kamen. Ich mochte sie sehr und ich mochte Weihnachten, natürlich vor allem wegen der Geschenke. Wir sortierten unsere Karten, dann wurde ausgelost, wer anfangen durfte. Meistens dauerte es nicht lange, bis meine Abneigung gegen das Kartenspielen dem Ehrgeiz zu gewinnen gewichen war. Hatte ich ein gutes Blatt, befand ich mich schnell im Siegesrausch. Wenn ich einen Stich machen konnte, zog ich mein Ass oder meinen Trumpf und sagte: „Wetten, dass wir gewinnen!“

Ich weiß nicht mehr, ob es meine Großmutter war oder mein Großvater, aber oft kam dann der Satz, den auch meine Mutter später manchmal sagte, dessen wirkliche Bedeutung ich damals nicht verstand. Aber ich habe ihn nicht vergessen: „Wetten tun nur Juden, die kein Geld haben.“

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Stadttheater Kalbe (Milde)

Eine Stadt wie ein Theaterkulisse: Häuser, Straßen, Bäume, aber kaum Menschen. Vielleicht lag es an der warmen Jahreszeit, dass die Leute hier nur für das Nötigste auf die Straße gingen. Vielleicht saßen sie in ihren Gärten, die sich wie Handtücher hinter den Häusern zur Milde hin zogen.

Viele der Häuser standen leer. Die Fenster schwarz, ohne Gardinen. Auf einigen Dächern fehlten schon Ziegel. Manchmal konnte man die alten Inhaber, ihr Geschäft, an einer verblichenen Wandschrift ablesen. Als wir in das alte Gerichtsgebäude traten, dass der Verein „Künstlerstadt Kalbe“ der Stadt für einen symbolischen Preis abgekauft hatte, traten wir in eine Kulisse. Man hätte hier ohne großen Aufwand einen historischen Film über die DDR drehen können. In einem der hinteren Räume standen alte graue Wahlurnen, die das Räumkommando nach der Wende wohl vergessen hatte. Die Stühle daneben hätten gut in den Palast der Republik gepasst. In der ehemaligen Arrestzelle hing das Gitter noch vor dem Fenster. Auf der hölzernen Pritsche hatten die Delinquenten auf ihren Prozess gewartet.

Weiter unten in der Stadt, in einem Zeitungsladen, sah es auch mehr nach einer Inszenierung eines Zeitungsladens aus, als nach einem Ort des Warenaustauschs. Außer einer Auswahl Zeitschriften gab es auf den spärlich belegten Stahlregalen ein Sammelsurium aus kleinen Porzellanfiguren, einer Auswahl Spielsachen und Bilderbüchern. Wir wollten eine Tageszeitung kaufen. Aber auf einem der Regale lag nur jeweils ein Exemplar des „Gardelegener Kreisanzeigers“ und der „Salzwedeler Volksstimme“. Ich suchte weiter nach einem überregionalen Blatt. Doch U., der über das Potentiale-Festival für imporivisierte Musik berichteten wollte, kam es gerade auf die Lokalblätter an. „Steht denn da was über das Potentiale-Festival drin?“, fragte er die Verkäuferin, die hinter einem Tresen stand. Sie nahm eine der beiden Zeitungen in die Hand und blätterte sie durch. U. suchte in der anderen. Immerhin, in beiden stand etwas.

„Gehen Sie auch zum Festival?“, fragte U. „Nö“, sagte die Verkäuferin. Es entstand eine lange Pause. Dann fragte er weiter. „Nicht viel los hier, was macht man denn so abends?“ „Na ja, einer hat immer Geburtstag. Feuerwehrfest und so.“ Wieder gab es eine lange Pause. Die Frau stand hinter ihrem Tresen und bewegte sich nicht. Mir schien, dass sie sich unwohl fühlte. Offenbar wartete sie nur darauf, dass wir wieder gingen. Ich drängte zum gehen.

Es war bald Mittag, die Sonne schien grell wie ein Scheinwerfer vom Himmel. Im Dönerimbiss, wo wir etwas aßen, waren wir die Einzigen. Erst im „Cafe Friedenseck“, das uns zwei Teenager zum Eisessen empfohlen hatten, wurde es belebter. Wir aßen Eis und nach dem Zahlen sprach uns die Kellnerin an. „Ihr seid doch auch auf dem Potentiale-Festival, oder?“, sagte sie. „Hab ich gleich erkannt.“ Es stellte sich heraus, dass sie ursprünglich aus Berlin stammt und sich in einem der Nachbardörfer billig ein Haus mit Garten gekauft hatte.

U. fragte sie, warum die Leute aus der Stadt nicht auf dem Festival sind. „Ich frag ja schon immer die Kolleginnen“, antwortete sie. „Aber die interessiert das nicht.“ Sie sah sich um und wandte sich dann leise an uns. „Wenn Feuerwehrfest ist, dann sind sie alle da. Und saufen. Am nächsten Morgen rufen sie dann an, dass sie nicht kommen können, weil es ihnen schlecht geht.“

Für die Kalber ist es umgekehrt. Nicht ihre Stadt ist das Theater, sondern das Festival. Da steht neben der Kirche ein altertümliches Zelt, vor dem ein orientalischer Teppich liegt. Daneben befindet sich eine mobile Schmiedewerkstadt, in der man an einem kurzen Workshop das Schmieden lernen kann. Die alte Scheune, in der erst Heu und Stroh gelagert und die danach zur Garage umfunktioniert worden war, wird Musik gespielt. Schräge Musik, von komischen Leuten besucht, die von woanders kommen. Aus größeren Städten, weit weg vom Alltag der Stadtbewohner, ihren Wünschen und Problemen.

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Miteinander reden

Auf dem Festival für improvisierte Musik in Kalbe, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, stand neben der Kirche ein Zelt. Das eher altertümliche Modell hatte Sebastian, der in Leipzig und Schanghai Philosophie studiert hatte, zusammen mit einem Freund dort aufgestellt. In der Mitte befand sich ein kleines Regal mit einer Auswahl von Büchern. Die „Traurigen Tropen“ des französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss lag da neben Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ und Edward W. Saids „Orientalism“. Auf der rechten Seite gab es einen Wasserkocher und einen kleinen Espressoautomaten. Jeder der Festivalteilnehmer konnte sich einen Kaffee oder einen Tee machen lassen. Wir saßen vor dem Zelt auf einem großen alten Teppich mit orientalischem Muster und unterhielten uns.

Lisa erzählte, dass sie in Görlitz wohnt. „Oh“, sagte ich, „gerade noch am AFD-Bürgermeister vorbeigeschrammt.“ Sie lachte und berichtete, dass sie zusammen mit ein paar Freundinnen letztens auf dem AFD-Frauenabend gewesen wäre. Das sei schon schräg gewesen. Erst wären sie reingegangen, aber schnell wieder draußen gewesen. Die Klappen auf beiden Seiten seien gleich runtergangen, hier wir – da ihr. Aber dann hätten sie einen weiteren Versuch unternommen, und am Ende drei Stunden lang mit den AFD-Frauen geredet.

Mia, die gerade hinzugekommen war, sah sie an und sagte: „Das finde ich toll, dass ihr mit denen geredet habt. Echt toll.“ Sie erzählte, dass sie in Duisburg-Nord aufgewachsen ist. Nach längerer Zeit sei sie dorthin zurückgekehrt. Alles wäre verändert gewesen. Libanesische Clans hätten den ganze Stadteil in der Hand. „Und die Polizei macht nichts.“

Ich sagte, dass ein entscheidendes Problem bei der ganzen Diskussion über Kriminalität die Verallgemeinerung der eigenen Erfahrungen sei. Die Kriminalitätsrate in Deutschland gehe ständig zurück, aber die Leute hätten subjektiv das Gefühl, dass es hier immer gefährlicher werde.

Nein, dass sehe sie nicht so. „Die schicken ihre Zwölfjährigen los, weil die nicht verurteilt werden können. Die terrorisieren die Bevölkerung.“ Ihrer Mutter hätten sie eine Bombe ins Wohnzimmer geschmissen. Und sie werde auf der Straße von den Clan-Kindern angespuckt.

Ich erwiderte, dass es im Grunde zu spät sei. Diese Leute, die zum überwiegenden Teil Palästinenser sind, wären während des libanesischen Bürgerkriegs in den 1970er Jahren nach Deutschland geflohen. Sie seien jahrzehntelang staatenlos gewesen und hätten jeden Tag mit Abschiebung rechnen müssen. Sie durften jahrelang nicht arbeiten. Das einzige, auf das sie sich verlassen können, sind ihre Familien. Und die einzige Möglichkeit aus der Armut herauszukommen die Kriminalität. Das entschuldigt nichts, aber man hätte vorher etwas anders machen müssen.

Nein, dass sei ganz falsch, so zu denken, sagte Mia. Sie wäre mal zum Integrationsamt der Stadt gegangen und hätte denen von den Zuständen in Duisburg-Nord erzählt. „Die haben gesagt, dass sei eine rassistische Auffassung. Ich, die ich mit einem Kroaten verheiratet gewesen bin, soll eine Rassistin sein?“

„Wenn man euch so zuhört“, sagte daraufhin Sebastian, „dann könnte man zu der Auffassung kommen, die Polizei wäre regelrecht migranten- und ausländerfreundlich.“

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