Die sichtbare Geschichte

Letztes Jahr, am Anfang der Pandemie, zweifelte eine Freundin an der Existenz von Corona. Als Argument führte sie ein Youtube-Video an, in dem jemand das Blut „einer Ziege an die WHO schickt und die das dann positiv getestet hat“.

Aber nicht nur zur gegenwärtigen Pandemie verbreitet das Video-Portal von Google Lügen und Falschmeldungen. Auch von Rechtsradikalen wird Youtube gerne dazu genutzt, um die Geschichte in ihrem Sinne umzuschreiben. Im Zusammenhang mit der Recherche zu Przemysl war ich dort auf einen Film von Stuart Russell gestoßen, dem Schwiegervater von Andreas Kalbitz. Der inzwischen aus der AfD ausgeschlossene Rechtsradikale wird im Abspann der Dokumentation „Von Garmisch bis in den Kaukasus. Die Geschichte der 1. Gebirgsjägerdivision 1941 -1942“ als Drehbuchautor aufgeführt. Zu Wort kommen darin ehemalige Offiziere der Division sowie der „international renommierte Historiker und Universitätsdozent“ Dr. Heinz Magenheimer, ein österreichischen Militärhistoriker, der seit den 1990er Jahren zum Überfall auf die Sowjetunion 1941 die wissenschaftlich widerlegte „Präventivschlagthese“ vertritt. Demnach war Hitler gezwungen, in die Sowjetunion einzumarschieren, weil Stalin kurz davor stand, Westeuropa zu erobern. In Russells Film, der 2009 erschienen ist, spricht Magenheimer zwar nicht mehr von einem Präventivkrieg, sondern von einem „Entscheidungskampf“, was aber nichts daran ändert, dass er den Überfall auf die Sowjetunion wegen der angeblichen Angriffspläne Stalins als unvermeidbar ansieht.

Damit kein schlechtes Licht auf die Division fällt, endet Russells Geschichte der Gebirgsjäger mit dem Rückzug aus dem Kaukasus 1942. So muss der Film die danach verübten Kriegsverbrechen der „Edelweißdivision“ nicht erwähnen. Soldaten der Gebirgsjäger hatten in der zweiten Hälfte des 2. Weltkriegs in Albanien, Griechenland und Jugoslawien Tausende Kriegsgefangene sowie Frauen, Kinder und Alte ermordet. Nach dem Krieg, in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse, wurde ihr Kommandant, General Hubert Lanz, als Kriegsverbrecher verurteilt. Allerdings fiel die Verurteilung milde aus; bereits 1951 wurde er wieder entlassen, was er – wie man heute weiß – unter anderem den Falschaussagen seiner „Kameraden“ zu verdanken hatte, die ihn noch sechzig Jahre später als „Zeitzeugen“ in „Von Garmisch in den Kaukasus“ als „begnadeten Truppenführer“ und für seine „väterliche Sorge um seine eigene Truppe“ bewundern.

Russell und Kalbitz haben es leicht mit ihrer Verharmlosung der 1. Gebirgsdivision, kann ihr Film doch auf der sichtbaren Geschichte zurückgreifen, die die Geschichte der Täter ist. Denn nur aus der Perspektive der Täter – abgesehen von wenigen Ausnahmen – sind Bilder über den 2. Weltkrieg vorhanden und prägen unsere Vorstellung von dieser Zeit. Die Geschichte der Opfer ist in dieser Hinsicht unsichtbar, weil es von ihr nur in seltenen Fällen Bilder gibt. Im Abspann wird dem Kriegsberichterstatter Wolfgang Gorter gedankt, der das Filmmaterial für „Von Garmisch in den Kaukasus“ aus seinem privaten Archiv zur Verfügung gestellt habe. Filmmaterial, mit dem er über weite Strecken auch die Propagandafilme des Dritten Reiches hätte bestücken können und wahrscheinlich auch bestückt hat.

Für den unbedarften Zuschauer des Youtube-Videos wirken die Erinnerungen der alten Kämpfer authentisch und ihre Erzählungen über die Edelweißdivision erscheinen als wahr. Auch die Art des Films macht einen seriösen Eindruck, was nicht zuletzt an der sonoren Erzählerstimme von Nick Benjamin liegt, den Russell und Kalbitz für den Film engagiert haben. Benjamin ist eine der bekanntesten deutschen Off-Stimmen. Er war Sprecher in dem Musical „König der Löwen“, sprach die Anmoderation im „Aktuellen Sportstudio“ und man hört ihn in zahllosen Dokumentarfilmen, unter anderem in Guido Knopps ZDF-History-Sendungen zur Nazizeit und zum Zweiten Weltkrieg.

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Die unsichtbare Geschichte

Der Himmel war strahlend blau, als um zwanzig nach neun der Zug in Przemysl einfuhr. Ich packte meine Sachen zusammen, stieg aus und ging den langen Bahnsteig in Richtung Unterführung. Für eine 60.000-Einwohner-Stadt ist der Bahnhof eigentlich zu groß. Aber es handelt sich in Wirklichkeit auch um zwei Bahnhöfe. Denn vier der zehn Gleise sind für die russischen Breitspurzüge vorgesehen. Zu erreichen sind sie nur über einen separaten Eingang. Von dort kann man dann quer durch die Ukraine bis nach Minsk, Moskau oder in den Süden nach Odessa reisen. Mein Zug, der mich um 13:10 Uhr nach Lemberg bringen sollte, fährt zwei Mal am Tag von Przemysl nach Kiew und zurück.

Der große Bahnhof weist auch auf die Bedeutung Przemysls als wichtige Grenzstation zur Ukraine hin. Erbaut haben ihn Anfang des zwanzigsten Jahrhundert die Österreicher, die hier bis zum Ende des Ersten Weltkriegs herrschten. Sie haben der Stadt kein Glück gebracht, auch wenn die Pracht des liebevoll restaurierten Empfangsgebäudes mit seinen Säulen, Verzierungen und Wandgemälden etwas anderes versprach. Denn neben dem Bahnhof haben die Habsburger zwei Festungsgürtel um den strategisch wichtigen Ort gelegt. In den zahlreichen dazugehörenden Forts waren 130.000 Soldaten stationiert. Lange florierte die Stadt auch durch die große Garnison. Aber dann kam es umso schlimmer. Przemysl wurde monatelang von der russischen Armee belagert. Über 100.000 Menschen starben hier allein bis 1915.

Die Bahnhofshalle ist von der Sonne hell erleuchtet. Auch der lange Gang zur Bahnhofsgaststätte, „Perle von Przemysl“, ist lichtdurchflutet. Sie besteht aus einem riesigen Raum, der wie die Bahnhofshalle über zwei Etagen hoch ist. Auch hier Wandgemälde und hoch oben eine zweite Reihe von Fenstern, die den Eindruck erwecken, als hätte man die Decke zum ersten Stock einfach weggelassen. In Deutschland gab es bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ähnlich eindrucksvolle Bahnhofsgaststätten. Dann kamen die Autos, die Flugzeuge und am Ende das Controlling der Deutschen Bahn AG mit ihren Boutiquen und McDonalds.

Ich bin fast allein. An einem Tisch am Fenster sitzt nur noch ein Paar. Die Bedienung kann kein Englisch, aber der Besitzer, den sie herbeiruft, kann es umso besser. Es ist ein jungen Mann, korrekt gekleidet, mit kurz geschnittenem Bart. Bei ihm bestelle ich ein Frühstück, das kurz darauf kommt und mit seinen gebratenen Würstchen sehr englisch ist.

Danach habe ich noch Zeit und gehe in die Stadt. Weil ich keinen Stadtplan habe, laufe ich zufällig gewählte Straßen um den Bahnhof entlang. Ich lande vor einem Gebäude, das durch seine ungewöhnliche Form mein Interesse weckt: hohe Fenster und ein niedriges, abgerundetes Dach. Aber erst der Blick auf eine Tafel neben der Eingangstür bringt mich auf die Spur. Es handelt sich um eine ehemalige Synagoge, 1910 errichtet von Moische Steinbach, nach der sie auch benannt ist. Kurz vor der Übergabe an die Sowjets, die gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt den südöstlichen Teil von Przemysl besetzten, wurde sie von den Deutschen zusammen mit einem Großteil des jüdischen Viertels niedergebrannt, im Gegensatz zur Hauptsynagoge jedoch nach dem Krieg wieder aufgebaut.

Vor der deutschen Besetzung Polens gab es in Przemysl und Umgebung etwa 30.000 Juden. Zwischen dem 15. und 19. September 1939 ermordeten Mitglieder der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD unter Beteiligung der Wehrmacht 600 Juden. 1942 wurden 24.000 Juden aus Przemysl und Umgebung nach Belcec deportiert und dort ermordet. Aber es gab auch zwei Deutsche, die in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt werden. Der Rechtsanwalt und Oberleutnant Albert Battel, NSDAP-Mitglied seit 1933, rettete zusammen mit seinem Vorgesetzten, Major Max Liedtke, Juden vor der Deportation. Battel ließ nach Absprache mit Liedtke am 27. Juli 1942 die Brücke über den San sperren. Es war damals die einzige Möglichkeit, über den Fluß in den nördlichen Teil der Stadt zu gelangen. Unter Androhung von Waffengewalt konnte er die SS davon abhalten, in das dort von den Deutschen eingerichtete Ghetto einzumaschieren, um die Juden zu deportieren. Er und Liedtke transportierten danach mit Hilfe von zwei Lastkraftwagen Juden mit ihren Familien aus dem Ghetto und versteckten sie zeitweilig auf dem Gelände einer Wehrmachtskaserne. Sie legitimierten ihre Aktion damit, dass die Juden als Arbeitskräfte für die Wehrmacht unverzichtbar wären. Am Ende konnten sie etwa fünfhundert von ihnen retten.

Im Ganzen gesehen blieben Battel und Liedke eine Ausnahme, so selten, dass es nicht ins Gewicht fällt. Aber erwähnenswert. Erwähnenswert ist auch, dass sich beide, nachdem ihre Aktion bekannt wurde, nur geringen Disziplinarstrafen ausgesetzt sahen. Nach geheimen Ermittlungen gegen Battel wollte ihn Heinrich Himmler zwar wegen „Judenfreundlichkeit“ aus der Partei werfen; interessanterweise aber erst nach dem Krieg. Offenbar fürchtete er, mit seinem Rausschmiss zu viel Aufsehen zu erregen und damit Aufmerksamkeit auf die Ermordung der Juden zu ziehen.

Battel schied 1944 wegen eines Herzleidens aus dem Militärdienst aus, überlebte den Krieg und starb 1952. Bezeichnend ist das Entnazifizierungsverfahren, dem er sich wegen seine NSDAP-Mitgliedschaft ausgesetzt sah. In dem Spruchgerichtsverfahren wurde ihm ein konkreter Fall der Nutznießerschaft bei der Arisierung vorgeworfen. Es gab auch Zeugen, die, neben denen, die ihm die korrekte Behandlung von Juden bescheinigten, behaupteten, er habe mit der Gestapo gedroht. Die Widersprüchlichen Angaben führten dazu, dass er als Mitläufer eingestuft wurde und seinen Anwaltsberuf nicht mehr ausüben durfte. Weil er so früh starb, wurde er – im Gegensatz zu allen anderen Juristen, die dem NS-Regime gedient hatten – nach der Gründung der Bundesrepublik nicht rehabilitiert. Unter ihnen waren auch zahllose Verbrecher, die, ohne dazu verpflichtet zu sein, Todesurteile für geringfügige Vergehen verhängt hatten, wie z.B. illegales Schlachten eines Schweins, Bau eines Kurzwellensenders, mit dem man „Feindsender“ hören konnte usw. Alle arbeiteten als Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte weiter und starben ohne für ihre Taten belangt worden zu sein.

Die Sonne schien auf die Synagoge, die nach dem Krieg als Stadtbibliothek genutzt worden war. Was sich heute in dem Gebäude befindet, konnte ich nicht herausfinden. Ich machte ein paar Fotos, auch von den daneben stehenden unrenovierten Häusern mit ihren pittoresken Balkonen. Das Vergehen der Zeit ließ sich am abplatzenden Putz der Fassaden ablesen – ein sichtbarer Hinweis auf die unsichtbare Geschichte der Stadt.

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Nowa Huta

Als ich morgens das Rollo in meinem Abteil hochzog und hinaussah, flog das Bahnhofsschild von Nowa Huta vorbei. Ich hatte den Namen dieses Krakauer Vororts bereits in meiner Kindheit gehört. Er klang vielversprechend futuristisch, wie eine Stadt aus einem Science-Fiction-Roman. Aber ich wusste nicht, wo Nowa Huta liegt. Zeitweise glaubte ich, es müsse der Name einer Stadt in Jugoslawien sein; wahrscheinlich verwechselte ich es mit Novi Sad. Dann hatte A., als wir vor zehn Jahren in unsere Wohnung einzogen, eine schwarz-weiße Postkarte im Bad aufgehängt, auf der ein lächelndes kleines Mädchen zu sehen ist, das in einer ungewöhnlich kurzen, hochwandigen Badewanne in einer winzigen Küche sitzt. Auf der Rückseite las ich: „Nowa Huta, lata 60-te / 1960s“. Und: „Posh Commy – Krakow, Poland“. Seitdem weiß ich, das Nowa Huta in Polen liegt.

Das Foto erinnerte mich an meine eigene Kindheit. In dem Reihenhaus, in das meine Eltern mit mir und meiner Schwester Anfang der 1960er Jahre gezogen waren, wohnte im ersten Stock wegen des damaligen Wohnungsmangels noch eine junge Frau. Sie hatte ihr eigenes Bad. Unser Bad im Erdgeschoss war so klein, dass nur eine hohe Sitzbadewanne hineinpasste. Ich liebte diese Wanne und bevorzugte sie auch noch, als die Frau ausgezogen war, und ich in der großen Wanne hätte baden können. In der Sitzwanne war das Wasser tiefer; dort konnte ich viel tiefer tauchen.

Wo Nowa Huta genau liegt, erfuhr ich erst jetzt, als das Bahnhofsschild vorbeiflog. Nie hatte ich den Ort zu dem Namen recherchiert, auch nicht, nachdem ich die Beschriftung der Postkarte gelesen hatte. Der Name hatte mir gereicht.

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Schlafwagen II

Draußen dämmerte es. Ich schaltete die Leselampe über dem Kopfende meiner Liege ein und griff zu dem Buch, das ich für die Reise mitgenommen hatte: Isaak Babel, „Der Besuch der Kaiserin“. Babels Erzählungen, so hatte ich gedacht, wären eine gute Lektüre für Lemberg. In Odessa geboren, war er 1920 während des polnisch-sowjetischen Krieges als Berichterstatter mit der berühmten Reiterarmee Budjonys durch Galizien gezogen. Allerdings hatte er wenig Schmeichelhaftes von der Brutalität und dem Antisemitsmus der für die Rote Armee kämpfenden Kosacken zu erzählen. Sicher, ich hätte auch einen Reiseführer lesen können. Aber der strukturiert die Wahrnehmung auf eine eher konventionelle und – wie ich fand – uninteressante Weise. Babel dagegen würde meinen Blick vielleicht auf Dinge richten, die in keinem Reiseführer stehen.

Doch ich hatte lange nichts mehr von ihm gelesen. Gleich die erste Erzählung, „Der alte Schloime“, ist von einer bodenlosen Traurigkeit. „Unser Städtchen ist zwar nicht groß“, beginnt Babel im gemütlichen Ton vieler russischer Romane und Erzählungen des 19. Jahrhunderts, „sämtliche Einwohner lassen sich herzählen, und der alte Schloime hat hier sechzig Jahre lang ununterbrochen gelebt“. Aber die Stimmung schlägt schnell um:  „Dennoch würde Ihnen nicht jeder sagen können, wer Schloime ist und was er vorstellt. Das kommt, weil man ihn einfach vergessen hat, wie man einen unnützen Gegenstand vergisst, der einem selten ins Auge fällt.“

Mich bedrückte dieser Anfang. Besonders die Stelle, „wie man einen unnützen Gegenstand vergisst, der einem selten ins Auge fällt“. Ein Mensch, der zu einem Ding geworden ist. Den man, weil er zu nichts nütze ist, einfach vergisst. Kann es noch schlimmer kommen? – Ja, es kann, denn eines Tages sagt Schloimes Sohn, der ihm immerhin noch eine Ecke zum Schlafen und zu essen gegeben hat, dass sie verjagt werden und das „Städtchen“ verlassen müssten. Schloime aber fühlt sich mit seinen 86 Jahren zu alt, um noch einmal die Strapazen eines Neuanfangs auf sich zu nehmen. Völlig verzweifelt bringt er sich um.

Je länger ich über diese kleine Erzählung von 1913 nachdachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass Babel darin prophetisch die Ereignisse vorwegnahm, die Polen und die Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert prägen würden. Oder genauer gesagt: Man kann sie, wenn man will, deutlich aus der Erzählung herauslesen. Denn die Gewalt und die Vertreibung, die die Juden hier zum wiederholten Mal erleiden, würde im 20zigsten Jahrhundert auch die restliche Bevölkerung treffen. Polen, die Ukraine, Weißrussland bis hin zu den baltischen Staaten, das waren die „Bloodlands“, wie es der amerikanische Historiker Timothy Snyder ausgedrückt hat. Eine Gegend, die im letzten Jahrhundert ständiger Gewalt ausgesetzt war. In der mit schätzungsweise 14 Millionen Toten ein Menschenleben so wenig wert war wie das Schloimes. Antisemitische Progrome, Erster Weltkrieg, polnisch-sowjetischer Krieg, russischer Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung, Gulag, Zweiter Weltkrieg, Holocaust und nach dem Zweiten Weltkrieg die „Umsiedlungen“, die de facto ethnischen Säuberungen waren. Die Polen wurden aus der Westukraine auf das Territorium des heutigen Polen vertrieben und zogen in Ostpreußen, Pommern und Schlesien in die Häuser und Wohnungen der geflohenen Deutschen. Und aus dem Südosten Polens mussten die Ukrainer in die heutige Westukraine ziehen, in die Häuser und Wohnungen der vertriebenen Polen. Przemysl zum Beispiel, die Endstation meines Kurswagens, ist vor dem Zweiten Weltkrieg eine ukrainisch geprägte Stadt gewesen. Heute wohnen dort nur Polen. Während Lemberg eine große polnische Gemeinde hatte; heute leben dort nur Russen und Ukrainer.

Vor dem Fenster war es dunkel geworden. Man sah nichts mehr außer die vorbeifliegenden Lichter polnischer Dörfer. Ich zog das Rollo herunter und hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ich in einem Raumschiff und flöge durch Raum und Zeit. Der Zug würde Richtung Süden durch Schlesien fahren, durch Glogau, Opeln und Breslau – wie die Städte vor dem Zweiten Weltkrieg hießen; Głogów, Opole und Wrocław, wie sie heute heißen. Dann ginge es in Richtung Osten, nach Krakau, und morgen früh, kurz vor neun, kämen wir dann in Przemysl an.

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Schlafwagen I

Der Zug fuhr lautlos in den Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen ein. Auch der Lautsprecher, der sonst die Züge ankündigte, blieb stumm. Auf dem blauen Bildschirm der Anzeigentafel stand „Wien“. Ich wollte aber nach Przemysl (ungefähr „Pschemüschel“ ausgesprochen). In der kleinen polnischen Stadt an der Grenze zur Ukraine musste ich in den Zug nach Lemberg umsteigen. Das war das eigentliche Ziel meiner Reise.

Ich verglich die Zugnummer der Anzeige mit der auf meiner Fahrkarte. Sie stimmten überein. Und ich hatte Glück, schon nach dem zweiten Waggon, an dem ich entlang ging, stand der Kurswagen nach Przemysl. Doch als ich einsteigen wollte, war die Tür verschlossen. Also stieg ich in den vorherigen Waggon. Aber auch die Tür zwischen den Waggons war zu. Als ich wieder auf dem Bahnsteig stand, sah ich den Schlafwagenschaffner am anderen Ende stehen. Ein alter Mann, vielleicht Ende sechzig, Anfang siebzig, mit zerfurchtem Gesicht und  melancholischem Blick.

„Guten Abend“, sagte ich.

Er schwieg, zeigte nur auf die Fahrkarte, die ich in der Hand hielt. Ich reichte sie ihm, dann machte er ein Zeichen, dass ich einsteigen sollte. Als ich nach der Fahrkarte greifen wollte, zog er sie zurück. „Platz 51“ sagte er.

Ich nahm meinen Koffer und stieg ein. Im Gang war nur das leise Summen der Lüftung zu hören. Die weiße Resopalwand mit den Türen zu den Abteilen erinnerte an die Umkleidekabinen bei Röntgenärzten. Platz 51 befand sich am anderen Ende des Waggons. Als ich die Tür zum Abteil öffnete, sah ich, dass die drei Betten bereits runtergelassen waren. Es war erst kurz kurz vor 19 Uhr, normalerweise wurden die Kabinen erst sehr viel später für die Nacht hergerichtet, damit die Fahrgäste noch sitzen konnten. Jetzt gab es nur noch einen kleinen Sitz unter dem Fenster. Vielleicht würde ich allein bleiben, was mir ganz recht war. Ich schien sowieso der einzige Reisende in diesem Waggon zu sein. Zumindest war ich allein eingestiegen und hörte auch sonst niemanden.

Doch dann, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte, rumpelte es im Nachbarabteil. Auf dem Weg zur Toilette sah ich durch die offene Tür des Abteils eine junge Frau mit brünetten lockigen Haaren. Sie saß auf der unteren Liege und sortierte ihre Sachen. Ich sagte „Hallo“. Sie sah auf, erwiderte aber nichts. Auf der Toilette stellte ich fest, dass zwar die Toilettenspülung funktionierte, aber kein Wasser aus dem Hahn über dem Waschbecken kam. Unwillkürlich war ich aufgebracht, was mir sonst selten passiert, und als ich wieder an der offenen Tür zum Nachbarabteil vorbeiging, dachte ich, ich sollte etwas sagen.

„Das Wasser in der Toilette funktioniert nicht. Nur die Toilettenspülung.“

Die Frau schaute auf und sagte: „Ach“.

Weil sie nichts weiter sagte, ging ich wieder in mein Abteil. Ich verriegelte die Tür, wusch mir in dem kleinen Waschbecken die Hände und setzte mich ans Fenster. Draußen flogen bereits die Häuser der Berliner Vororte vorbei. Wir waren schon auf freier Strecke, als sich der Türgriff lautlos nach unten bewegte. Als ich aufstand und öffnete, sah ich auf dem Gang nur noch die Tür zum anderen Waggon zuklappen. War es der melancholische Schaffner gewesen?

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