Auf einer Diskussionsveranstaltung wurde letztens die Schriftstellerin Nino Haratischwili von der Moderatorin gefragt, ob es etwas gäbe, das literarisch für sie nicht darstellbar sei. Haratischwili sah nachdenklich einen Moment lang ins Publikum und antwortete dann: Nein. Wenn die literarischen Fähigkeiten dazu vorhanden wären, sei alles erzählbar. Aber stimmt das? Ist wirklich alles erzählbar? Ist die Wirklichkeit oder auch nur das, was wir darunter verstehen, adäquat in Literatur abbildbar? Können wir das, was wir sagen wollen, wirklich sagen? Viele der heute als Klassiker geltenden Autoren waren sich da alles andere als sicher. Kafka zum Beispiel hielt seine Romane für gescheitert, „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist ein Fragment geblieben und James Joyce hat in „Ulysses“ mit einem gigantischen erzählerischen Aufwand in den unterschiedlichsten literarischen Formen gerade mal 24 Stunden aus dem Leben seines Helden erzählt und auch das hat ihn am Ende nicht überzeugt, weshalb er dann „Finnegans Wake“ schrieb.
Nino Haratischwili ist nicht die einzige Autorin, die heute so denkt. Viele Autoren, die im Augenblick Preise gewinnen und deren Bücher sich gut verkaufen, scheint diese Frage nicht besonders zu beschäftigen. Der heutige Mainstream hat den Realismus des 19. Jahrhunderts in mehr oder weniger abgewandelter Form übernommen. Trotzdem hat mich die Antwort von Haratischwili in ihrer Eindeutigkeit überrascht. Vielleicht hatte sie die Frage nicht richtig verstanden. Aber als ich dann ihren letzten Roman „Das achte Buch. Für Brilka“ las, wurde mir klar, dass sie es ernst meinte. Haratischwili hat ein großes Talent zum Erzählen. Aber dieses Talent verpufft in diesem 1.200-Seiten-Werk bei dem Versuch, anhand einer Familie die komplette georgisch-russisch-europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Oft wirkt das kursorisch, so als hätte sie sich immer wieder gesagt, diese oder jene Katastrophe muss ich noch in die Erzählung einbauen (und man fragt sich, warum gerade eine andere fehlt). Da stehen dann Sätze wie: „In Stalingrad tanzte der Tod seinen wildesten Reigen.“ Vieles hat man auch schon woanders gelesen. Was eigentlich kein Problem wäre, denn Literatur erzählt ja oft die gleichen Geschichten. Interessant ist dann, wie diese Geschichten erzählt werden, ob auf eine neue, andere Weise. „Das achte Buch. Für Brilka“ handelt zwar von den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts, aber das Erzählen selbst hat sich dadurch nicht verändert. Wie gehabt schlüpft die allwissende Erzählerin ungebrochen in alle ihre Figuren, suggeriert, dabei gewesen zu sein, und jeden Schrecken beschreiben zu können. In dieser Hinsicht ist Nino Haratischwilis erzählerisches Selbstbewusstsein ungebrochen.
Wie gesagt, Nino Hartaschwili ist nur ein Beispiel. Viele andere Autoren schreiben heute so wie sie. Und was „Finnegans Wake“ angeht, dem letzten Buch von James Joyce: es gilt als unlesbar. Das unterscheidet diesen Roman von „Ulysses“. Einerseits drückt das ein weiteres Mal ein Scheitern aus. Andererseits ist dieses Scheitern wie bei Kafka und Musil ein grandioses Scheitern. Auf jeden Fall ein Scheitern, das deutlich macht, dass sich eben nicht alles literarisch darstellen lässt.