Tagesvisum

Habe gerade von Patrick Modiano „Gräser der Nacht“ gelesen. Wie in allen seinen Büchern umkreist auch hier ein Erzähler seine Vergangenheit. An einer Stelle heißt es: „Und erst viel später kannst du endlich verstehen, was du erlebt hast und wer diese Menschen aus deiner Umgebung eigentlich waren.“ Beim Lesen dieser Stelle musste ich an unsere Treffen bei E. in Ostberlin Mitte der 1980er Jahre denken. Die Treffen Literaturinteressierter waren von einer Kommilitonin von der Freien Universität initiiert worden. Sie war erst kurz zuvor nach Westberlin gezogen und hatte davor Germanistik an der Humboldt-Universität studiert. Damals reichte eine Verlobung mit einem Mann aus dem Westen aus, um die DDR verlassen zu können. Weil sie nicht aus politischen, sondern aus privaten Gründen ausgereist war, bekam sie wie wir ohne Probleme ein Tagesvisum für Ostberlin.

Getroffen haben wir uns in der großen Zwei-Zimmer-Wohnung von E., den die Kommilitonin noch von der Humboldt-Universität her kannte. Die meisten Teilnehmer aus Ostberlin waren Germanistik-Studenten wie wir. Es gab auch einige DDR-Schriftsteller, die uns erklärten, wie sie jahrelang von nicht realisierten Aufträgen leben konnten. Einer hatte sogar einen Hörspielpreis gewonnen, ohne dass das Hörspiel produziert und gesendet worden wäre. Immer wurde ein Projekt mit einem Verlag, dem Hörfunk oder dem Fernsehen vertraglich abgemacht, dann aber nicht realisiert. Das vertraglich zugesicherte Honorar wurde aber trotzdem gezahlt. Auf diese Weise konnte man sich mehrere Jahre über Wasser halten, erfuhren wir.

Es war eigenartig, wir waren uns alle wohlgesonnen und trotzdem fühlte ich mich während der Diskussionen immer angespannt. Ich erinnere mich, dass ich einmal richtig erleichtert war, als ich unten im Bahnhof Friedrichstraße stand und auf die S-Bahn nach Westberlin wartete. Und das lag nicht an den kalten Blicken der Grenzsoldaten oder an irgendetwas Bedrohlichem in der DDR. Insgeheim suchte ich danach (um den Freunden im Westen etwas erzählen zu können), fand aber nichts. Die größte Aufregung war mal die verspätete Ankunft eines Freundes aus dem Westen bei E.: Die Stasi hatte ihn zwei Stunden an der Grenze festgehalten und versucht, als IM anzuwerben. Sie wollten einen seiner ehemaligen WG-Mitbewohner in Westberlin aushorchen. Er kam aus der DDR und war aus politischen Gründen ausgereist. Dass die beiden inzwischen keinen Kontakt mehr hatten, hatte die Stasi jedoch noch nicht mitbekommen. Möglichkeiten wie Google, Facebook oder die abhörfreundliche Voice-over-ip-Technik der Telekom waren noch Zukunftsmusik.

Ich war bei den Treffen angespannt, weil ich etwas sagen wollte, mich aber nicht traute. Oder ich hatte das Gefühl, zu viel zu sagen, und deshalb als „Besserwessi“ wahrgenommen zu werden. Interessanterweise gab es den Begriff noch nicht, aber ich glaube, er trifft mein damaliges Gefühl ganz gut. Und dann schien mir alles, was gesagt wurde, viel wichtiger und ernster genommen zu werden. Auch das war für mich ungewohnt. Mit der Reformpädagogik nach 1968 wurden wir in der Schule aufs Diskutieren getrimmt. Wir sollten „mündige Staatsbürger“ werden, auch wenn das manchmal hieß, dass unsere Diskussionsbeiträge auf Spekulationen beruhten. Es fand sich immer jemand, der dagegenhielt. Was dann allerdings auch zu endlosen, am Rande der Sinnfreiheit entlangschrammenden Diskussionen führen konnte.

Bei E. hatte ich nicht nur das Gefühl, dass die Beiträge Hand und Fuß haben mussten, sondern dass alles, was gesagt wurde, auch persönlich genommen wurde. Letzteres machte dann ein Brief deutlich, den R. aus Ostberlin an E. geschrieben hatte. Mit seiner Erlaubnis las er uns R’s Brief vor. R. beschwerte sich darin über die Reaktionen auf seine Interpretation von Ingeborg Bachmanns Hörspiel „Der gute Gott von Manhatten“, das wir beim Treffen zuvor diskutiert hatten. Ich hatte ziemlich viel gesagt und Bachmanns Hörspiel mit Aspekten aus Freuds „Unbehagen in der Kultur“ interpretiert. R. wiederum hatte eine Interpretation von Emil Staiger zitiert, den Schweizer Einfühlungshermeneuten. Bei den Einfühlungshermeneuten konnte die Interpretation manchmal unfreiwillig komisch werden, weil sie so poetisch sein wollte wie der interpretierte Text, der Interpret dann aber doch nicht das Talent des Schriftstellers oder Dichters hatte. Ich glaube, niemand hat gesagt, Staigers Deutung des Hörspiels sei kitschig. Aber es wurde gelacht. Soweit ich mich erinnere, schrieb er am Ende seines Briefes, dass er eine solche Atmosphäre nicht länger ertragen könne und deshalb auf eine weitere Teilnahme an den Treffen verzichte.

Als ich A., die damals an der Humboldt-Universität studierte, letztes Jahr erzählte, dass ich immer so angespannt bei unseren Ost-West-Treffen gewesen wäre, meinte sie, sie hätte genau das Gegenteil empfunden. Die Diskussionen in der Wohnung von E. seien die freiesten Diskussionen gewesen, die sie in der DDR erlebt habe.

 

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