Kategorie: Allgemein (Seite 6 von 12)

Herr Poljakow

Herr Poljakow hatte etwas Geisterhaftes. Über seinen Pyjama zog er immer ein hellblau gepunktetes Krankenhausnachthemd, das er umständlich hinten zusammenband. Das Resultat schien ihn jedes Mal sehr zu befriedigen, denn niemals ging ihm die Geduld dazu aus. Wenn er dann zwischen den Betten auf und ab ging, flatterten die Enden des Nachthemds an seinem dünnen, nach vorne gebeugten Körper im Wind. Oft sprach er leise vor sich hin, mit seiner hohen Stimme und auf Russisch. In solchen Momenten schien er in einer anderen Zeit an einem anderen Ort zu sein, vielleicht in Moskau, wo er bis vor acht Jahren gelebt hat.

Einmal hielt er plötzlich vor meinem Bett an und sagte er etwas zu mir. Als ich erwiderte, dass ich kein Russisch verstünde, erwiderte er: „Ach ja, ich hab nur gesagt, die Luft ist hier so trocken, deswegen huste ich so viel.“ Ich hatte ihn allerdings gar nicht husten hören; vielleicht war auch das mit einem Erlebnis aus einer anderen Zeit verbunden. Auf jeden Fall schien er noch in Kontakt zu stehen mit seinem anderen Leben. Er erzählte mir, dass er in Moskau Lektor für Englisch in einem wissenschaftlichen Verlag gewesen war, aber dann, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, blieben die staatlichen Subventionen für Verlage aus und er verlor seinen Job. Er schien sehr sprachbegabt zu sein, denn sein Deutsch, das er erst nach seinem Umzug nach Dresden zu lernen begonnen hatte, war grammatikalisch ungewöhnlich korrekt. Die Aussprache allerdings ließ zu wünschen übrig; offenbar waren die Laute irgendwo zwischen Moskau und Berlin hängengeblieben.

Wie ich las Herr Poljakow gerne Zeitung. Jeden Morgen ging er den Gang hinunter und holte die Freiexemplare, die dort auf der Fensterbank lagen. Auch diese Aufgabe wie die Hilfe für Herrn Constantini nahm er mit ironischem Ernst wahr. Als ihm einmal einfiel, dass er keine Zeitungen geholt hatte, sprang er von seinem Bett auf und sagte mit gespielter Empörung: „Ich habe meine Pflicht vergessen!“ Manchmal brachte er drei unterschiedliche Blätter mit und wir waren den ganzen Morgen mit Lesen beschäftigt.

Ich mochte Herrn Poljakow, was nicht ganz einfach war, denn als er nach dem Auszug von Herrn Kowalski das Bett mir gegenüber belegte, war das erste, das er mich fragte: „Meinen Sie nicht auch, dass es zu viele Flüchtlinge gibt?“. Mit seinem länglichen Kopf und dem dünnen Haarkranz stand er in seinem Krankenhausnachthemd vor meinem Bett. Überrascht und irritiert sah ich ihn an, und wusste im ersten Moment wieder nicht, was ich sagen sollte. Dann fragte ich, warum und woher er das so genau wüsste. Daraufhin sagte er nur: „Haben Sie gesehen, vorne am Eingang stehen auch welche.“

Zwei Schwestern

Ich saß im Café Schaubühne und las Zeitung, als sich plötzlich zwei Frauen an meinen Tisch setzten. Die eine trug eine graue Pelzjacke, unter der ein Rock hervorschaute. Sie duftete nach Parfum. Die andere hatte ebenfalls einen Rock an, trug aber eine rote Jacke. Beide sahen sich so ähnlich, dass sie eineiige Zwillinge sein mussten: den gleichen stemmigen Körper, das gleiche kantige, sehr männliche Gesicht, das von der gleichen Kurzhaarfrisur mit Pony eingerahmt wurde. Die mit der roten Jacke sagte zu ihrer Schwester, sie solle ihr ein Glas Wasser holen, und setzte sich auf die Bank mir schräg gegenüber. Kaum dass sie saß, fing sie an zu weinen. Was würde jetzt passieren, fragte ich mich, warum habe ich mich nur an einen der Vierertische gesetzt. Da kam die Frau in der Pelzjacke zurück und stellte ihrer weinenden Schwester das Glas Wasser hin. Die wiederum stand auf, machte ein ernstes Gesicht und sagte: „Du setzt dich jetzt da mal hin“. Sie zeigte auf den Platz neben mir, nahm wieder den Platz gegenüber ein und weinte weiter. Aber einen Augenblick später erhob sie sich wieder, nahm ihre Schwester beim Arm, setzte sie neben sich auf die Bank und sagte: „Du hörst mir jetzt mal zu.“ Dann begann sie auf ihre Schwester einzureden. Ich verstand zunächst nichts, weil sie sehr undeutlich sprach.

Ich versuchte weiter zu lesen. Aber es ist schwer, jemandem nicht zuzuhören, der am selben Tisch sitzt, weint und zwischendurch, immer lauter werdend, mit jemandem schimpft, selbst wenn man nichts versteht. Die Frau mit der Pelzjacke blieb zunächst stumm. Ihre Schwester war offenbar diejenige, die sagte, wo es langgeht. Aber genau das schien auch das Problem zu sein. „Ich will endlich mein Leben zurückhaben“, verstand ich, „ich kann nicht ständig auf dich aufpassen.“ Danach stand sie auf, sagte, „warte hier“, und ging nach draußen. Blitzschnell drehte sich die Frau mit der Pelzjacke zu mir um und redete los. Auch sie war schwer zu verstehen, ich verstand nur, „Aber dafür muss man mich doch nicht in der Wohnung einsperren!“ Im nächsten Moment kam ihre Schwester wieder herein und sagte streng, „Lass den Mann in Ruhe!“, setzte sich und sagte dann noch einmal, „Lass den Mann in Ruhe!“ Danach begann sie wieder zu weinen.

Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen. Aber was? Eingreifen und schlichten? Aber ich kannte die beiden ja gar nicht. Dann begann sich die Frau in der grauen Pelzjacke, die ja bisher geschwiegen hatte, zu verteidigen. Ich verstand wieder nichts, sah nur, wie aufgebracht ihre Schwester jetzt wurde, wie sie die Hände zu Fäusten geballt nach unten schlug und mit unterdrückter Stimme „nein, nein, nein!“ sagte. Die Frau in der grauen Pelzjacke wurde jetzt lauter, woraufhin sie ihre Schwester mit „nicht so laut, nicht so laut“ ermahnte. Sie selbst wurde dann allerdings auch laut. Langsam bekam ich Angst, dass die beiden aufeinander losgehen würden, aber es blieb nur bei Worten und Gesten.

Ich sah mich um. Etwa die Hälfte der Tische im Café waren besetzt. Im gleichen Moment sah mich die Frau mit der roten Jacke an und fragte: „Sind wir zu laut? Stören wir Sie?“ „Nein, nein“, log ich. Ihr Gesicht hatte sich von einer Sekunde auf die andere völlig entspannt und verwundert bemerkte ich, dass keine Tränen zu sehen waren. Spielte sie vielleicht nur Theater? Ihr Blick riss sie zumindest aus ihrer Rolle, zurück in die wohltemperierte Stimmung des Cafés. Dann ging der Streit von Neuem los.

Das Café ein Ort, in dem man allein sein kann ohne einsam zu sein. Aber irgendwie fühlte ich mich jetzt einsam.

Plötzlich tauchte ein Mann hinter mir auf, Ende fünfzig, weiße Haare und Brille. Er sagte zu den beiden: „Sie müssen sich doch nicht streiten. Sie haben doch beide recht.“ Ich dachte: Das ist auch keine Lösung und versuchte weiter zu lesen. Irgendwann trank ich dann meinen Kaffee aus und packte meine Sachen zusammen. „Wir haben Sie doch jetzt nicht vertrieben?“, fragte die Frau in der roten Jacke. „Nein, nein, ich muss sowieso gehen“, sagte ich, was halb stimmte, halb eine Lüge war. „Wir haben Sie doch nicht vertrieben“, wiederholte sie. Wieder sah sie mich völlig gefasst an, obwohl sie eine Sekunde vorher noch vor Wut getobt hatte.

Das Haus und das Gebüsch

Viele Bilderbücher entfalten für mich einen geheimnisvollen Sog. Dabei spielt ihr künstlerische Wert keine Rolle. Sie können ruhig kitschig sein, wichtig ist nur, dass sie wenig zeigen. Wimmelbücher beispielsweise funktionieren nicht. Außerdem ist es wichtig, dass das, was zu sehen ist, eine gewisse Räumlichkeit entwickelt, wie eine hügelige Wiese mit Tieren, einem kleinen Haus und einem Gebüsch. Wobei die Tiere uninteressant sind, interessant sind für mich das Haus und das Gebüsch. Außerdem sollte es nicht zu viele Details geben. Je einfacher alles gezeichnet ist desto besser. Allerdings muss schon der kleinste gemeinsame Nenner der Dinge getroffen sein. Abstrakte Bilder funktionieren auch nicht. Das Gebüsch muss als Gebüsch, das Haus als Haus erkennbar sein. Wenn dann alle Faktoren stimmen – und sie stimmen bei vielen Bilderbüchern – stellt sich mir jedes Mal, wenn ich eines aufschlage, unwillkürlich die Frage: Was befindet sich in diesem Haus, was befindet sich hinter diesem Gebüsch? Die Antwort bleibt dabei ein Geheimnis. Denn wer könnte über die Wiese gehen, wer könnte die Tür des Hauses öffnen, wer könnte hinter das Gebüsch sehen?

Wir haben sehr schöne vegetarische Gerichte

Bevor Herr Poljakow das Bett mir gegenüber belegte, lag dort Herr Kowalski, ein ehemaliger Maurer aus Wilmersdorf. Wie Herr Bayrak konnte er kaum noch atmen, bekam Hustenanfälle, bei denen ich am Anfang Angst hatte, er würde ersticken. Doch mit Hilfe eines Sprays beruhigte er sich immer wieder.  „Wenn doch diese Enge in der Brust nicht wäre“, sagte er einmal.

Herr Kowalski hatte die gedrungene, stämmige Figur eines Bauarbeiters. Man sah ihm an, dass er ein Leben lang körperlich hart gearbeitet hatte. Immer war ihm zu warm. Wenn es Herrn Bayrak und mir nach dem Öffnen des Fensters zu kalt wurde, lag er noch – die Decke ans Fußende geschoben – im Unterhemd auf seinem Bett. Mit Kopfhörer über den Ohren sah er den ganzen Tag und die halbe Nacht auf den Fernsehbildschirm über mir. Wenn ich den Kopf nach hinten legte und hochsah, tummelten sich dort meist exotischen Tiere oder gigantischen Lastwagen rasten über Wüstenstraßen.

Kaum war ich in das Zimmer verlegt worden, polterte Herr Kowalski los. „Dieses Miststück“, sagte er und meinte Herrn Constantini im Bett neben sich. Erschrocken sah ich hinüber und fragte mich, ob Herr Constantini etwas mitbekommen hatte. Das hatte er wahrscheinlich, denn er sah einen kurzen Moment zu Herrn Kowalski hinüber. Gleichzeitig war er dabei, sich bei der Frau, die das Essen brachte, zu beschweren. „Warum kriege ich Fleisch. Ich mag kein Fleisch.“ „Dann müssen sie etwas anderes bestellen“, erwiderte sie, „wir haben sehr schöne vegetarische Gerichte im Angebot. War denn die Frau, die die Bestellungen aufnimmt, gestern nicht da?“ Vielleicht hatte er Constantini nicht verstanden, denn er war ein bisschen schwerhörig, oder er wollte nicht verstehen. „Mama mia, warum Fleisch? Ich mag heute kein Fleisch.“ Herr Kowalski rollte mit den Augen. „Der Mann bringt mich noch mal zum Wahnsinn.“

Un Angelo

„Isch bin inkontinent, vorne und hinten“, sagt Herr Constantini. Gekrümmt steht er vor seinem Bett und versucht sich, eine Windel umzulegen. Man weiß nie so richtig, ob er mit uns spricht, oder mit sich selbst. „Eij, eij, eij“, stöhnt er vor Schmerzen. Seine Knochen sind voller Athritis, er kann sich kaum noch bewegen. „Warum hilft keiner?“ Ich biete ihm an, nach einer Schwester zu klingeln, aber er sagt: „Will nicht immer klingeln.“ Dann zieht er sich die Unterhose über die Windel.

Herr Constantini stammt aus Palermo. 1962 ist er nach Deutschland gekommen, zunächst nach Göppingen. „Ich war bei Zeiss, haben mich rausgeschmissen, weil ich ein Tag gefehlt habe.“ Danach Umzug nach Berlin, wo er in italienischen Restaurants als Pizzabäcker und Kellner gearbeitet hat. „Das Laufen hat Knochen ruiniert.“ Jetzt geht es nur noch vom Bett zum Stuhl, in den er seinen dicken dunkelblauen Wintermantel so hingelegt hat, dass er ihn im Sitzen anziehen kann. Danach setzt er sich seine Prinz Heinrich Mütze auf, drückt sich langsam vom Stuhl in seinen Rollstuhl und fährt im Schneckentempo rückwärts mit den Beinen abstoßend in Richtung Zimmertür. Zwischen Herrn Poljakows und meinem Bett bleibt er dann meistens stecken, weil an meinem Bett wegen meiner Größe eine Verlängerung angebracht ist. Während er hin- und her rangiert, sehe ich an meinem Fußende, wie er durch die Gläser seiner etwas altmodischen, aber geschmackvollen goldenen Tropfenformbrille schräg nach hinten sieht.

In diesem Moment springt dann meist Herr Poljakow aus seinem Bett. Er ist der einzige von uns, der ohne Probleme gehen kann. Weil Herr Constantini sich rückwärts fortbewegt, bemerkt er Herrn Poljakow erst, als er seinen Rollstuhl an den Griffen nach hinten zieht. „Ah, un angelo, un angelo!“, sagt er und sieht mich dabei an. „Er ist mein Engel.“ Dabei hebt er seine Arme wie der Pabst beim Segnen der Menge. Wir lachen. Herr Poljakow schiebt ihn aus der Tür, Herr Constantini winkt mir noch lächelnd zu und verschwindet dann aus meinem Blickfeld in Richtung Ausgang.

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