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Die Karte

Im Keller des Hauses meiner Eltern hing eine große alte Karte von Schleswig-Holstein. Mein Vater hatte sie wahrscheinlich aus der Dorfschule, wo sie im Unterricht eingesetzt, später jedoch gegen eine neuere ersetzt worden war. Als Kind liebte ich diese Karte, weil sie so viele handgemalte Details enthielt. Wie auf einem Wimmelbild waren kleine Bauernhäuser zu sehen, Kühe, die auf der Weide standen und Eisenbahnen mit rauchenden Dampfloks. Die größeren Städte waren mit charakteristischen Details versehen. Lübeck mit dem Holstentor, Neumünster, wo ich zur Schule gegangen bin, mit den hohen Schornsteinen der der schon zu meiner Zeit verschwundenen Webereien. Vor Kiel, dem Marinehafen, schwamm ein Kriegsschiff in der Bucht.

Ich hatte mich immer schon für die zahllosen Details der Karte interessiert, war vor ihr stehengeblieben, wenn ich irgendwas aus dem Keller holen musste, und für einen Moment lang wie in einen Traum in ihre Welt eingetaucht. Bis ich eines Tages bei Bad Segeberg hängenblieb. Bad Segeberg, dass ist eine kleine Stadt, die durch die Karl-May-Festspiele über die Grenzen Schleswig-Holsteins bekannt geworden ist. Pierre Brice war hier in den 1980er Jahren als Winnetou jeden Sommer auf der Freilichtbühne vor dem Kalkberg gestorben. Ganz oben auf dem Berg, dem winzigen Stück spektakulärem Amerika in Schleswig-Holstein, sah ich eine noch winzigere Fahne. Ich ging mit dem Augen ganz nah an die Karte heran und sah, dass es eine rote Fahne war, mit einem weißen Kreis in der Mitte. Und in diesem weißen Kreis, mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, ein Hakenkreuz.

Rhinebeck

Ich sitze vor dem Café Schaubühne am Lehniner Platz in der Frühlingssonne. Neben mir schieben Mitglieder einer Touristengruppe mehrere Tische zusammen. Es sind Männer und Frauen aus unterschiedlichen Generationen, insgesamt vielleicht zehn, zwölf Personen, die nach und nach eintreffen. Es gibt zwei junge Paare, bei denen eine der Frauen schwanger ist. Dann gibt es die Generation zwischen vierzig und fünfzig. Und es gibt Männer und Frauen, die schon im Rentenalter sind.

Nachdem die Tische zusammengeschoben sind, beginnt einer der jungen Männer die Stühle zu zählen. Das erinnert mich an etwas. Und mir fällt auch gleich ein, an was: das Theater am Abend zuvor. Dort hatte ein Mann im ähnlichen Alter auf der Bühne genau dieselbe Geste gemacht. Auch er hatte mit dem Zeigefinger Stühle gezählt. Stühle, die um einen großen Tisch standen. Einem Tisch, an dem sich eine Familie zum Essen versammeln sollte.

Das Stück heißt „The Apple Family Plays 4: Regular Singing“ von Richard Nelson. Im Rahmen des Festivals Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) wurde es vom Autor selbst inszeniert an der Schaubühne gezeigt. Es geht um eine Familie, die sich am Abend des fünfzigsten Todestages von J.F. Kennedy im Elternhaus von drei Schwestern und einem Bruder in Rhinebeck versammelt. Sowohl das Datum als auch der Ort Rhinebeck, der von Holländischen Siedlern gegründet wurde, sind bewusst gewählt. Und es gibt zahllose weitere Anspielungen auf die mentale Situation der heutigen amerikanischen Mittelschicht, ihre kulturelle Abhängigkeit von Europa, ihre brüchige nationale Identität, die, wie der Bruder an einer Stelle sagt, für ihn nur einen Moment lang wirklich zu spüren war: bei der Trauer um John F. Kennedy.

Das Stück, das dann am Tag darauf vor dem Café gegeben wurde, war nicht nur in der Geste des jungen Mannes, der die Stühle zählte, ähnlich. Es gab auch wie bei der amerikanischen Theaterfamilie eine eigentümlich matriachale Konstellation in der Touristengruppe. Eine Frau, die bereits die Siebzig überschritten haben musste, gab den Ton an. Mit freundlicher, aber lauter Stimme beauftragte sie einen der Männer, ins Café zu gehen und drei Flaschen Wasser und Gläser für alle zu bestellen. Danach rief sie jemanden an und sprach wiederum gut von allen zu hören in ihr Handy. Am Ende gab sie das Telefon an den Mann neben ihr weiter, der in ihrem Alter war und eine Ray-Ban-Sonnenbrille sowie ein knallrotes, tief in die Stirn gedrücktes Basecap trug. „Jemand möchte Dir zum Geburtstag gratulieren.“

Auch auf der Bühne gaben die Frauen den Ton an. Was nicht hieß, dass die Männer im Abseits standen. Im Gegenteil, immer wieder wurden sie ins Zentrum gerückt oder bestimmten vom Hintergrund aus die Szene. So lag unsichtbar für den Zuschauer der geschiedene Ehemann einer der Schwestern im oberen Stockwerk im Sterben. Er wurde von einer Pflegerin betreut, einer Migrantin, die aber bereits Feierabend hatte. Ab- und zu schreckte deshalb die Schwester auf, mit der er verheiratet war, weil sie ein Geräusch von oben zu hören meinte, und ging von der Bühne. Und der Bruder der drei Schwestern lebte zwar weiter weg, in Albany, der Hauptstadt von New York State, wo Rhinebeck liegt; aber die Schwestern beschwerten sich, dass er sie so selten besuche, wo er doch jetzt, nach der Trennung von seiner Frau, allein sei. Immer wieder versuchten sie ihn davon zu überzeugen, nach Rhinebeck zurückzukehren. Am Ende zitiert der Bruder seine Ex-Frau. „Halte dich von deinen Schwestern fern“, hatte sie gesagt. „Die wollen dir nur ihr Leben aufzwingen.“

Im Grunde gilt das, was der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek für den Film sagt, auch fürs Theater. Demnach ist der Film nicht nur ein irreales, künstliches Produkt, sondern er strukturiert auch unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit und wird damit Teil unserer Wirklichkeit. Je länger ich die Touristengruppe vor der Schaubühne beobachtete, desto mehr kamen mir die einzelnen Personen wie Typen aus einem Theaterstück vor. Typen, von denen ich meinte, ihre Geschichte aus ihren Gesten und Gesichtern ableiten zu können. Zum Beispiel der jüngere Mann, der neben dem Geburtstagskind mit der Sonnenbrille und dem Bascap saß. Er trug eine unmodische eckige Brille mit dünner schwarzer Einfassung, ein Modell, das aus den 1980er Jahren stammen musste. Er hatte ein leicht aufgedunsenes Gesicht mit wächserner weißer Haut, so, als wäre er krank oder würde trinken. Er sagte kaum etwas, verfolgte aber auffällig interessiert die Gespräche der anderen. Oder der gut aussehende, braun gebrannte Mann am Ende des Tisches aus der Generation der Rentner. Er trug wie das Geburtstagskind eine Man-Ray-Sonnenbrille, allerdings kein Basecap, sondern hatte seine nur leicht angegrauten dunklen Haare mit Gel nach hinten gekämmt. Er wandte sich dem jungen Paar zu, von der die Frau die schönste in der Gruppe war.

Dann hielt plötzlich eine der älteren Frauen ein kleines schwarzes Gerät in der Hand. Es sollte den Ton ihres Handys verstärkt wiedergeben, gab aber zunächst nur knarzende Töne von sich. Eine Zeit lang ging das Gerät von Hand zu Hand. Es dauerte eine Weile, bis dann statt des Pfeifens und Rauschens eine Stimme zu hören war. Man hatte extra jemand für die Vorführung angerufen.

Am Abend zuvor, auf der Bühne, erzählt die jüngste der Schwestern, dass sie im Museum von Albany eine Figur aus dem Mittelalter gesehen hätte. Eine stehenden Frau, die ihre Hand ein Stück weit von sich entfernt hielt, die Handinnenfläche dem Gesicht zugewandt. Die Figur hätte sie an irgendwas erinnert, sagt sie. Nach einer Weile sei es ihr eingefallen: an jemanden, der auf den Bildschirm seines iPhones blickt. Nur dass die Figur im Museum kein iPhone, sondern ein kleines Kreuz in der Hand hielt.

Wohnmobil

Die Überraschung liegt auf der Straße. Am Samstag fahre ich durch die Cicerostraße und sehe beim Vorbeifahren ein altes Wohnmobil. Es ist eigentlich weiß, aber mit einer baumwurzelartigen schwarzen Struktur bemalt. Auf den weiß gebliebenen Zwischenflächen stehen handgeschriebene Gedichte und Sprüche. Ich halte an und sehe, dass ich nicht der erste bin, den das Auto interessiert. Eine Frau mit zwei Pikinesen steht auf dem Bürgersteig und liest. Weil ich überrascht und irgendwie sofort begeistert bin über dieses eher ungewöhnliche Fahrzeug in dieser eher gewöhnlichen Gegend, sage ich spontan: „witzig, oder?“ und bekomme ein kurzes „Ja“ zur Antwort. Lesend gehe ich um das Fahrzeug herum und als ich wieder an der Seite zum Bürgersteig angekommen bin, sagt die Frau: „Schönes Wochenende noch“. Ich erwidere den Wunsch, die beiden Pikinesen schauen mich noch einmal an und Frau und Hunde gehen weiter.

Die Texte sind unterschiedlich. Ein Gedicht von Robert Gernhardt zum Beispiel, „Siebenmal mein Körper“, dessen erster Vers so geht: „Mein Körper ist ein schmutzig Ding / wie gut, dass er mich hat. / Ich hülle ihn in Tuch und Garn / und mach ihn täglich satt.“ Wobei es hier einen freudschen Verschreiber gibt und es nicht „schmutzig“ sondern „schutzlos“ heißen müsste. Der letzte Vers lautet dann: „Mein Körper ist so unsozial / ich rede, er bleibt stumm. / Ich leb ein Leben lang für ihn. / Er bringt mich langsam um.“ Daneben gibt es viele weise Sprüche, wie den von Augustinus: „Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.“ Oder von Laotse: „Wenn du erkennst, dass es dir an Nichts fehlt, gehört dir die ganze Welt.“ Und von Robin Williams dann an der Fahrertür: „Carpe Diem, nutzet den Tag, Jungs!“ Ich fange an, mit meinem Multifunktionstelefon die Texte abzufotografieren, als ein Mann, Mitte Dreißig mit sommersprossigem Gesicht und Glatze auftaucht. Ich spüre, das ist der Besitzer des Gefährts, und frage, immer noch euphorisiert und in brüderlicher Stimmung: „Gehört der dir?“

„Ja“ – Pause. Der Mann beginnt die Seitentür des Wohnmobils aufzuschließen. „Tolle Idee“, fällt mir ein. „Danke“ – Pause. Jetzt musst du schnell noch eine Frage nachschieben, sage ich mir, das Gespräch in Gang halten. Wer so ein Wohnmobil fährt, ist vielleicht ein interessanter Zeitgenosse in dieser an interessanten Zeitgenossen armen Gegend. „Wohnst Du da drin?“ „Ja“, kommt es und wieder Pause. Vielleicht war das „Du“ zu brüderlich, schließlich ist das eine seriöse Gegend hier, wahrscheinlich oder gerade in den Augen eines Mannes vom fahrenden Volk. Zumindest macht er einen reservierten Eindruck auf mich. Aber auf die Schnelle fällt mir auch keine weitere Frage ein. „Tschüs“, sage ich deshalb und steige wieder auf mein Fahrrad. „Tschüs“, kommt es zurück.

 

Aufrecht fahren

Es gibt nicht viele Augenblicke im Leben, in denen man das Gefühl hat, wiedergeboren zu werden. Letzten Woche Mittwoch, gegen halb drei, war so ein Augenblick. Ich hatte mein Fahrrad morgens zur Reparatur gebracht. Die Gangschaltung ging nicht mehr. Aber ich hatte auch einen weiteren Anlauf unternommen, den Lenker zu erhöhen. Der letzte war daran gescheitert, dass der Mann von meinem alten Fahrradladen sagte, es gäbe keine höheren Lenker in Schwarz. Ein verchromter Lenker hätte aber total blöd ausgesehen, da mein Fahrrad durchgängig schwarz lackiert ist. Also beugte ich beim Fahrrad fahren aus ästhetischen Gründen meinen Nacken weiter demütig nach unten, während ich den Kopf, wie bei einem Hund, nach oben knickte, um etwas von der Welt zu sehen. Nur das der Knochenaufbau eines Hundes für seinen hündischen Blick geschaffen ist und er darunter nicht leidet wie ich und mein Nacken.

„Kein Problem, es gibt ein schwarzes Verlängerungsstück“, hatte mir der Mann vom neuen Fahrradladen kurz morgens bei der Abgabe gesagt und mein Rad nach hinten geschoben. Und als ich das Fahrrad abholte, draufstieg und wegfuhr, war der Augenblick dann da. Was für ein Gefühl, aufrecht durch die Stadt zu fahren! Was für ein Blick in die Welt! Alle Probleme schienen von oben her betrachtet klein, aller Pessimismus verwandelte sich innerhalb von Sekunden in Optimismus! Und die Autofahrer schienen jetzt die Demütigen zu sein, die unter mir das Weite suchten. Während ich souverän durch die Gegend fuhr und das Ganze überblickte.

Unterwegs

Letzten Montag in der S-Bahn, auf dem Weg nach Hause, sehe ich, wie eine Frau erst in den Waggon einsteigt, dann blitzschnell wieder auf den Bahnsteig springt, um Sekunden danach wieder in den Zug zu laufen und sich uns gegenüber in die Ecke neben die Tür zu setzen. Um ihr feines, schmales Gesicht hat sie ein Kopftuch gebunden. Außerdem trägt sie eine Brille mit eckigen Gläsern und dünnem schwarzen Brillengestell. Hektisch, ja ängstlich guckt sie sich im Waggon um.

Ich denke sofort an den Film „Nadar und Simin – eine Trennung“, mit dem der iranische Regisseur Asghar Farhadi auf der Berlinale 2011 den Goldenen Bären gewonnen hat. Obwohl die Frau Kopftuch trug, machte sie nicht den ländlichen Eindruck der hier lebenden Mirgrantenfrauen, die zum großen Teil aus der türkischen Provinz stammen. Sie sah aus wie eine der iranischen Mittelschichtsfrauen aus Farhadis Film. Gebildete Frauen, die nur zwangsweise in der Öffentlichkeit Kopftuch tragen. Aber warum trug sie dann hier Kopftuch, wo sie niemand dazu zwingt? Vielleicht war sie aus dem Krieg in Syrien geflohen und hatte eine posttraumatische Belastungsstörung. Oder war sie nur schwarz gefahren und hatte jemanden fälschlich für einen Kontrolleur gehalten? Aber wäre sie dann blitzschnell wieder in denselben Waggon gesprungen? Oder meinte sie, in den falschen Zug eingestiegen zu sein, und hat ihren Fehler schnell bemerkt? Doch warum sah sie sich dann so hektisch und ängstlich um?

Manchmal habe ich das Gefühl, im Gesicht oder in den Gesten der Fahrgäste ihre ganze Geschichte ablesen zu können. Geschichten, die ich mir oft als nicht einfach vorstelle. Das kann manchmal anstrengend sein. Andererseits ist der öffentliche Nahverkehr einer der repräsentativsten Orte in der Stadt. Hier trifft man auf die ganze Gesellschaft, inklusive der Armut und des Elends, die man sonst lieber verdrängt. Denn die Möglichkeiten, sich in eine persönliche Parallelwelt zurückzuziehen, werden ja immer größer. Nicht nur Migranten können ihre Wünsche und Hoffnungen durch Satellitenfernsehen und Internet in den Cyberspace verlegen und sich aus der deutschen Realität zurückziehen. Auch für nichtmigrantische Deutsche bietet das Internet immer mehr Möglichkeiten, den sie umgebenden Problemen aus dem Weg zu gehen.

Und dann, an einem andere Tag, geht es mir wieder völlig anders. Eine Fahrt mit der Linie 1 durch Kreuzberg zum Beispiel ist immer noch – oder gerade wieder – ganz ähnlich wie in dem berühmten Stück des Grips-Theaters aus den 1980er Jahren. Neben den zahllosen Touristen wird man schier überwältigt von der Vielfalt des Lebens, die sich in der Kleidung, im Haarschnitt, in den Gesten und den vielen Sprachen der Fahrgäste ausdrückt. Und von der guten Stimmung! Man lächelt, wenn sich einer mal daneben benimmt, weil er zu viel getrunken hat. Niemand regt sich über den Anderen auf, nur weil er anders ist als man selbst. Im Gegenteil, man freut sich über die Vielfalt. Die Stadt wird dann zu dem Ort, der sie im Vergleich zum Rest des Landes schon immer war: toleranter, offener. Und was die Probleme angeht, die in der U- oder S-Bahn sichtbar werden: Sie nicht verdrängen zu können, sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen, mindert auch die Angst vor ihnen.

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