Rhinebeck

Ich sitze vor dem Café Schaubühne am Lehniner Platz in der Frühlingssonne. Neben mir schieben Mitglieder einer Touristengruppe mehrere Tische zusammen. Es sind Männer und Frauen aus unterschiedlichen Generationen, insgesamt vielleicht zehn, zwölf Personen, die nach und nach eintreffen. Es gibt zwei junge Paare, bei denen eine der Frauen schwanger ist. Dann gibt es die Generation zwischen vierzig und fünfzig. Und es gibt Männer und Frauen, die schon im Rentenalter sind.

Nachdem die Tische zusammengeschoben sind, beginnt einer der jungen Männer die Stühle zu zählen. Das erinnert mich an etwas. Und mir fällt auch gleich ein, an was: das Theater am Abend zuvor. Dort hatte ein Mann im ähnlichen Alter auf der Bühne genau dieselbe Geste gemacht. Auch er hatte mit dem Zeigefinger Stühle gezählt. Stühle, die um einen großen Tisch standen. Einem Tisch, an dem sich eine Familie zum Essen versammeln sollte.

Das Stück heißt „The Apple Family Plays 4: Regular Singing“ von Richard Nelson. Im Rahmen des Festivals Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) wurde es vom Autor selbst inszeniert an der Schaubühne gezeigt. Es geht um eine Familie, die sich am Abend des fünfzigsten Todestages von J.F. Kennedy im Elternhaus von drei Schwestern und einem Bruder in Rhinebeck versammelt. Sowohl das Datum als auch der Ort Rhinebeck, der von Holländischen Siedlern gegründet wurde, sind bewusst gewählt. Und es gibt zahllose weitere Anspielungen auf die mentale Situation der heutigen amerikanischen Mittelschicht, ihre kulturelle Abhängigkeit von Europa, ihre brüchige nationale Identität, die, wie der Bruder an einer Stelle sagt, für ihn nur einen Moment lang wirklich zu spüren war: bei der Trauer um John F. Kennedy.

Das Stück, das dann am Tag darauf vor dem Café gegeben wurde, war nicht nur in der Geste des jungen Mannes, der die Stühle zählte, ähnlich. Es gab auch wie bei der amerikanischen Theaterfamilie eine eigentümlich matriachale Konstellation in der Touristengruppe. Eine Frau, die bereits die Siebzig überschritten haben musste, gab den Ton an. Mit freundlicher, aber lauter Stimme beauftragte sie einen der Männer, ins Café zu gehen und drei Flaschen Wasser und Gläser für alle zu bestellen. Danach rief sie jemanden an und sprach wiederum gut von allen zu hören in ihr Handy. Am Ende gab sie das Telefon an den Mann neben ihr weiter, der in ihrem Alter war und eine Ray-Ban-Sonnenbrille sowie ein knallrotes, tief in die Stirn gedrücktes Basecap trug. „Jemand möchte Dir zum Geburtstag gratulieren.“

Auch auf der Bühne gaben die Frauen den Ton an. Was nicht hieß, dass die Männer im Abseits standen. Im Gegenteil, immer wieder wurden sie ins Zentrum gerückt oder bestimmten vom Hintergrund aus die Szene. So lag unsichtbar für den Zuschauer der geschiedene Ehemann einer der Schwestern im oberen Stockwerk im Sterben. Er wurde von einer Pflegerin betreut, einer Migrantin, die aber bereits Feierabend hatte. Ab- und zu schreckte deshalb die Schwester auf, mit der er verheiratet war, weil sie ein Geräusch von oben zu hören meinte, und ging von der Bühne. Und der Bruder der drei Schwestern lebte zwar weiter weg, in Albany, der Hauptstadt von New York State, wo Rhinebeck liegt; aber die Schwestern beschwerten sich, dass er sie so selten besuche, wo er doch jetzt, nach der Trennung von seiner Frau, allein sei. Immer wieder versuchten sie ihn davon zu überzeugen, nach Rhinebeck zurückzukehren. Am Ende zitiert der Bruder seine Ex-Frau. „Halte dich von deinen Schwestern fern“, hatte sie gesagt. „Die wollen dir nur ihr Leben aufzwingen.“

Im Grunde gilt das, was der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek für den Film sagt, auch fürs Theater. Demnach ist der Film nicht nur ein irreales, künstliches Produkt, sondern er strukturiert auch unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit und wird damit Teil unserer Wirklichkeit. Je länger ich die Touristengruppe vor der Schaubühne beobachtete, desto mehr kamen mir die einzelnen Personen wie Typen aus einem Theaterstück vor. Typen, von denen ich meinte, ihre Geschichte aus ihren Gesten und Gesichtern ableiten zu können. Zum Beispiel der jüngere Mann, der neben dem Geburtstagskind mit der Sonnenbrille und dem Bascap saß. Er trug eine unmodische eckige Brille mit dünner schwarzer Einfassung, ein Modell, das aus den 1980er Jahren stammen musste. Er hatte ein leicht aufgedunsenes Gesicht mit wächserner weißer Haut, so, als wäre er krank oder würde trinken. Er sagte kaum etwas, verfolgte aber auffällig interessiert die Gespräche der anderen. Oder der gut aussehende, braun gebrannte Mann am Ende des Tisches aus der Generation der Rentner. Er trug wie das Geburtstagskind eine Man-Ray-Sonnenbrille, allerdings kein Basecap, sondern hatte seine nur leicht angegrauten dunklen Haare mit Gel nach hinten gekämmt. Er wandte sich dem jungen Paar zu, von der die Frau die schönste in der Gruppe war.

Dann hielt plötzlich eine der älteren Frauen ein kleines schwarzes Gerät in der Hand. Es sollte den Ton ihres Handys verstärkt wiedergeben, gab aber zunächst nur knarzende Töne von sich. Eine Zeit lang ging das Gerät von Hand zu Hand. Es dauerte eine Weile, bis dann statt des Pfeifens und Rauschens eine Stimme zu hören war. Man hatte extra jemand für die Vorführung angerufen.

Am Abend zuvor, auf der Bühne, erzählt die jüngste der Schwestern, dass sie im Museum von Albany eine Figur aus dem Mittelalter gesehen hätte. Eine stehenden Frau, die ihre Hand ein Stück weit von sich entfernt hielt, die Handinnenfläche dem Gesicht zugewandt. Die Figur hätte sie an irgendwas erinnert, sagt sie. Nach einer Weile sei es ihr eingefallen: an jemanden, der auf den Bildschirm seines iPhones blickt. Nur dass die Figur im Museum kein iPhone, sondern ein kleines Kreuz in der Hand hielt.

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