Die Überraschung liegt auf der Straße. Am Samstag fahre ich durch die Cicerostraße und sehe beim Vorbeifahren ein altes Wohnmobil. Es ist eigentlich weiß, aber mit einer baumwurzelartigen schwarzen Struktur bemalt. Auf den weiß gebliebenen Zwischenflächen stehen handgeschriebene Gedichte und Sprüche. Ich halte an und sehe, dass ich nicht der erste bin, den das Auto interessiert. Eine Frau mit zwei Pikinesen steht auf dem Bürgersteig und liest. Weil ich überrascht und irgendwie sofort begeistert bin über dieses eher ungewöhnliche Fahrzeug in dieser eher gewöhnlichen Gegend, sage ich spontan: „witzig, oder?“ und bekomme ein kurzes „Ja“ zur Antwort. Lesend gehe ich um das Fahrzeug herum und als ich wieder an der Seite zum Bürgersteig angekommen bin, sagt die Frau: „Schönes Wochenende noch“. Ich erwidere den Wunsch, die beiden Pikinesen schauen mich noch einmal an und Frau und Hunde gehen weiter.
Die Texte sind unterschiedlich. Ein Gedicht von Robert Gernhardt zum Beispiel, „Siebenmal mein Körper“, dessen erster Vers so geht: „Mein Körper ist ein schmutzig Ding / wie gut, dass er mich hat. / Ich hülle ihn in Tuch und Garn / und mach ihn täglich satt.“ Wobei es hier einen freudschen Verschreiber gibt und es nicht „schmutzig“ sondern „schutzlos“ heißen müsste. Der letzte Vers lautet dann: „Mein Körper ist so unsozial / ich rede, er bleibt stumm. / Ich leb ein Leben lang für ihn. / Er bringt mich langsam um.“ Daneben gibt es viele weise Sprüche, wie den von Augustinus: „Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.“ Oder von Laotse: „Wenn du erkennst, dass es dir an Nichts fehlt, gehört dir die ganze Welt.“ Und von Robin Williams dann an der Fahrertür: „Carpe Diem, nutzet den Tag, Jungs!“ Ich fange an, mit meinem Multifunktionstelefon die Texte abzufotografieren, als ein Mann, Mitte Dreißig mit sommersprossigem Gesicht und Glatze auftaucht. Ich spüre, das ist der Besitzer des Gefährts, und frage, immer noch euphorisiert und in brüderlicher Stimmung: „Gehört der dir?“
„Ja“ – Pause. Der Mann beginnt die Seitentür des Wohnmobils aufzuschließen. „Tolle Idee“, fällt mir ein. „Danke“ – Pause. Jetzt musst du schnell noch eine Frage nachschieben, sage ich mir, das Gespräch in Gang halten. Wer so ein Wohnmobil fährt, ist vielleicht ein interessanter Zeitgenosse in dieser an interessanten Zeitgenossen armen Gegend. „Wohnst Du da drin?“ „Ja“, kommt es und wieder Pause. Vielleicht war das „Du“ zu brüderlich, schließlich ist das eine seriöse Gegend hier, wahrscheinlich oder gerade in den Augen eines Mannes vom fahrenden Volk. Zumindest macht er einen reservierten Eindruck auf mich. Aber auf die Schnelle fällt mir auch keine weitere Frage ein. „Tschüs“, sage ich deshalb und steige wieder auf mein Fahrrad. „Tschüs“, kommt es zurück.