Letzten Montag in der S-Bahn, auf dem Weg nach Hause, sehe ich, wie eine Frau erst in den Waggon einsteigt, dann blitzschnell wieder auf den Bahnsteig springt, um Sekunden danach wieder in den Zug zu laufen und sich uns gegenüber in die Ecke neben die Tür zu setzen. Um ihr feines, schmales Gesicht hat sie ein Kopftuch gebunden. Außerdem trägt sie eine Brille mit eckigen Gläsern und dünnem schwarzen Brillengestell. Hektisch, ja ängstlich guckt sie sich im Waggon um.
Ich denke sofort an den Film „Nadar und Simin – eine Trennung“, mit dem der iranische Regisseur Asghar Farhadi auf der Berlinale 2011 den Goldenen Bären gewonnen hat. Obwohl die Frau Kopftuch trug, machte sie nicht den ländlichen Eindruck der hier lebenden Mirgrantenfrauen, die zum großen Teil aus der türkischen Provinz stammen. Sie sah aus wie eine der iranischen Mittelschichtsfrauen aus Farhadis Film. Gebildete Frauen, die nur zwangsweise in der Öffentlichkeit Kopftuch tragen. Aber warum trug sie dann hier Kopftuch, wo sie niemand dazu zwingt? Vielleicht war sie aus dem Krieg in Syrien geflohen und hatte eine posttraumatische Belastungsstörung. Oder war sie nur schwarz gefahren und hatte jemanden fälschlich für einen Kontrolleur gehalten? Aber wäre sie dann blitzschnell wieder in denselben Waggon gesprungen? Oder meinte sie, in den falschen Zug eingestiegen zu sein, und hat ihren Fehler schnell bemerkt? Doch warum sah sie sich dann so hektisch und ängstlich um?
Manchmal habe ich das Gefühl, im Gesicht oder in den Gesten der Fahrgäste ihre ganze Geschichte ablesen zu können. Geschichten, die ich mir oft als nicht einfach vorstelle. Das kann manchmal anstrengend sein. Andererseits ist der öffentliche Nahverkehr einer der repräsentativsten Orte in der Stadt. Hier trifft man auf die ganze Gesellschaft, inklusive der Armut und des Elends, die man sonst lieber verdrängt. Denn die Möglichkeiten, sich in eine persönliche Parallelwelt zurückzuziehen, werden ja immer größer. Nicht nur Migranten können ihre Wünsche und Hoffnungen durch Satellitenfernsehen und Internet in den Cyberspace verlegen und sich aus der deutschen Realität zurückziehen. Auch für nichtmigrantische Deutsche bietet das Internet immer mehr Möglichkeiten, den sie umgebenden Problemen aus dem Weg zu gehen.
Und dann, an einem andere Tag, geht es mir wieder völlig anders. Eine Fahrt mit der Linie 1 durch Kreuzberg zum Beispiel ist immer noch – oder gerade wieder – ganz ähnlich wie in dem berühmten Stück des Grips-Theaters aus den 1980er Jahren. Neben den zahllosen Touristen wird man schier überwältigt von der Vielfalt des Lebens, die sich in der Kleidung, im Haarschnitt, in den Gesten und den vielen Sprachen der Fahrgäste ausdrückt. Und von der guten Stimmung! Man lächelt, wenn sich einer mal daneben benimmt, weil er zu viel getrunken hat. Niemand regt sich über den Anderen auf, nur weil er anders ist als man selbst. Im Gegenteil, man freut sich über die Vielfalt. Die Stadt wird dann zu dem Ort, der sie im Vergleich zum Rest des Landes schon immer war: toleranter, offener. Und was die Probleme angeht, die in der U- oder S-Bahn sichtbar werden: Sie nicht verdrängen zu können, sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen, mindert auch die Angst vor ihnen.