Seite 8 von 12

Bilder

Großmütter haben einen großen Hunger nach Bildern ihrer Enkel. Also fuhr ich mal wieder zu Foto-Kapp, um Abzüge der letzten Fotos meiner Tochter machen zu lassen. Namensgeber, Besitzer und einziger Angestellter des Foto-Fachgeschäfts ist Herr Kapp, ein etwa fünfzigjähriger Mann mit Henriquatre-Bart. Manchmal ist Herr Kapp ein bisschen ruppig, denn er ist Berliner, aber seine Abzüge sind gut. Auch sonst hat er mir schon einige Fragen ums Fotografieren kompetent beantwortet. Deswegen gehe ich immer wieder zu ihm, wenn es darum geht, den Hunger der Großmütter zu stillen. Auch wenn die Abzüge teurer sind als im Internet.

Wegen der Menge an Fotos dauerte es diesmal etwas länger, bis die große Maschine im Hinterzimmer des Ladens mit summenden und ächzenden Geräuschen die Fotos ausgespuckt hatte. Ich wartete vorne im Verkaufsraum und betrachtete das Museum der Foto- und Videotechnik, dass Herr Kapp in einem Teil seines großen Schaufensters eingerichtet hatte. Stumm schauten dort analoge Video- und Spiegelreflexkamera in die digitale Welt, alle im betagten Zustand, leicht angestaubt. Was die Video-Kameras anging, hatte ihre Zeit eine Banderole über der langen Vitrine hinterlassen, in der Herr Kapp nun Speicherkarten und Digitalkameras anbot. „Video“ stand dort in gelber Schrift auf schwarzem Grund, bestimmt zehn mal hintereinander. Und obwohl „Video“ als Wort ein bisschen am Aussterben ist, weil selbst im Kino heute Filme mit digitaler Videotechnik projiziert werden und „Film“ einfach cooler klingt, war Herr Kapp ganz up-to-date, zumindest mit der Berliner CDU, die im derzeitigen Wahlkampf Plakate aufgehängt hat, auf denen einfach nur „Mehr Video“ steht. Einerseits verstand das jeder: die CDU will mehr Überwachung. Andererseits hatte sich in einer Zeitung jemand gefragt, ob das hieße, den alten VHS-Videorekorder wieder aus dem Keller hervorzuholen.

Wie dem auch sei, in Herrn Kapps Fotofachgeschäft gibt es einen Widerspruch zwischen der Einrichtung mit Möbeln aus den 1980er Jahren und den in Glasquadern eingekappselten Hologrammen, die man hier mit Hilfe einer Spezialkamera von sich selbst anfertigen lassen kann. Auch der digitale Bilderrahmen auf dem Verkaufstresen passte nicht so recht zum Teppichboden. Er spielte in endloser Folge alle zwei Sekunden Bilder ab. Ich überlegte kurz, ob das die definitive Lösung für den Bilder-Hunger der Großmütter gewesen wäre. Mit einem Internet-Anschluss hätte ich mir auch den Weg zu Herrn Kapp erspart. Ich könnte dann in Echtzeit die neusten Schnappschüsse meiner Tochter in Küche und Wohnzimmer der Omas spielen.

Doch dann tauchte plötzlich in dem Bilderrahmen ein Mann auf. Ich dachte, den kennst Du doch. Ja, das war Herr Kapp persönlich! Dann wechselten die Bilder wieder zu türkisblauem Meer, weißen Sandstränden und kleinen Orten, deren Häuser wiederum aus einem Meer von grünen Bäumen hervorguckten. Und wieder war Herr Kapp zu sehen, aufgenommen vor dem hölzernen Tor zu einem Strand. Außer ihm sah man allerdings keine anderen Personen, ein paar Passanten ausgenommen, die ihm wohl zufällig vor die Kamera geraten waren.

„Wo ist denn das?“, fragte ich, nachdem er einen Kunden bedient hatte und zeigte auf den Bilderahmen. Im Hintergrund mühte sich die Maschine immer noch mit meinen Fotos ab.

„Philippinen.“

„Sieht ja schön aus“, sagte ich.

„Ist es auch“, bestätigte er.

„Aber nicht ganz ungefährlich“, fiel mir ein. „Seit neuestem wird man da ja gleich erschossen, wenn man irgendwelche Drogen bei sich hat. Der neue Präsident hat doch dazu aufgerufen.“

„Ach, das ist übertrieben“, erwiderte er, „das stimmt so gar nicht. Die Bild-Zeitung hat das auch hochgespielt. Das gilt ja nur für Dealer.“

Ich sagte dann noch, dass es nicht ganz einfach wäre, zwischen Dealern und Konsumenten zu unterscheiden, aber Herr Kapp ließ sich seine schönen Bilder nicht kaputt machen. Stattdessen lobte er die Inselgruppe im Pazifik. Seit 2005 sei er jedes Jahr dorthin gefahren. Immer wäre er mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen und nie hätte er Probleme gehabt. „Aber hier fahre ich nicht mehr U- und S-Bahn. Das ist mir zu gefährlich.“

Die Reporterin

In der Cicerostraße, auf der Höhe der Schaubühne, raste uns plötzlich vom Ku’damm kommend ein Polizeiwagen mit Blaulicht entgegen. Dann hörten wir das laute aber unverständliche Rufen eines Mannes, irgendwo hinter dem Theatergebäude. Der Polizeiwagen hielt mit quietschenden Reifen in der Auffahrt zum Künstlereingang. Ein Beamter sprang aus dem Wagen und rannte mit der Hand am Pistolenhalfter in den Durchgang zwischen Theater und Apartmenthaus. Die Atmosphäre war sofort bedrohlich; offenbar handelte es sich hier nicht um die üblichen Dreharbeiten zu einem Krimi. A. blieb stehen und wollte nicht weiter gehen. Ich dachte, was soll uns schon passieren. Der Mann, der geschrien hatte, schien ja in die andere Richtung zu laufen, also von uns weg. Nach einer kurzen Pause hatte ich A. vom Weitergehen überzeugt, aber die Rufe verstummten erst, als wir um die runde Eingangsfront des Theaters herumgegangen waren. Dort sahen wir, wie ein weiterer Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene auf der linken Busspur gegen den Verkehr ein Stück weit den Ku’damm hochraste und ebenfalls in die Cicerostraße einbog. Zwei weitere Einsatzwagen waren in der Ferne zu hören und trafen nach und nach ein. Die Leute, die an den Tischen auf dem Platz vor dem Café Schaubühne saßen, schien das aber nicht mehr zu interessieren. Sie waren bereits zu ihren Gesprächen und ihrem Kaffee zurückgekehrt.

Kurze Zeit später, wir hatten uns ebenfalls an einen der Tische gesetzt, tauchte eine Frau auf, vielleicht hatte sie alles von ihrem Balkon im Apartmenthaus aus beobachtet. Sie trug eine große Brille mit halbhoch getönten Gläsern. Außer einer kleinen Digitalkamera, die locker an einer Schlaufe an ihrer Hand baumelte, hatte sie nichts dabei, keine Jacke, keine Tasche. Es sah so aus, als wollte sie Fotos von der Verfolgungsjagd schießen. „Bild“ ist ja immer auf der Suche nach Hobbyreportern. Die Frau sprach mit der Leiterin des Cafés, die gerade am Nebentisch Mittagspause machte. „Der hat ja immer nur geschrien, »Ich bin unbewaffnet, ich bin unbewaffnet.«“, sagte sie. „Wahrscheinlich ein Diebstahl. Der ist ihnen wohl durch die Lappen gegangen.“

Der Schneemann

Als wir um die Ecke gingen, schneite es. Dabei war es bereits April, der zwar auch dieses Jahr in Berlin machte, was er will, aber Schnee war nicht dabei. Es schneite so heftig, dass das Ende der Straße kaum zu sehen war. Erst als wir ein Stück weiter gegangen waren, sah ich dass der Schnee nicht von oben kam, sondern von unten, aus mehreren großen Rohren. Anhand der parkenden Lastwagen und einem Wohnmobil war klar: Hier wird ein Film gedreht. In Berlin trifft man eigentlich jeden Tag auf einen „Dreh“. Aber Dreharbeiten in einer verschneiten Straße bei 12 Grad, nach einem Winter, in dem kaum eine Flocke Schnee gefallen ist, das war dann doch ungewöhnlich.

A. ging schon mal weiter, ich blieb stehen und schaute zu. Wie eigentlich immer an solch einem „Set“ war kaum zu durchschauen, um was für einen Film es sich handeln und wie er aussehen würde. Zwischen dem Chaos der hin- und herwuselnden Leuten, den herumstehenden Apparaten und den oft bis ins letzte Detail ausgetüftelten Ordnung der Bilder des fertigen Films gibt es für den Beobachter einen Widerspruch. Hier standen rund zwanzig Leute herum, einige gaben Anweisungen oder trugen etwas irgendwohin. Aber wer war zum Beispiel der Regisseur? Manchmal ist er an einem auffälligen Schal oder eine rote Mütze zu erkennen oder sitzt auf einem Klappstuhl wie Hitchcock, aber hier war nichts davon zu sehen. Am Straßenrand stand ein Taxi, das nicht wegfuhr. Ein braun gebrannter Mann mit asiatischen Gesichtszügen und elegantem Mantel stand am Straßenrand. Im Taxi selbst befand sich hinter dem Fahrer eine junge Frau, ebenfalls mit asiatischen Vorfahren. Das mussten die Schauspieler sein.

„Eine Bank-Werbung“, sagte der Mann, der sich nach einer Weile neben die Schneekanone stellte. Ich hatte ihn gefragt, was für ein Film hier gedreht würde. Er schien froh, dass er jemanden gefunden hatte, mit dem er sich unterhalten konnte, denn er erzählte gleich weiter. „Die nehmen in Deutschland immer englische Schauspieler und in England Deutsche“, sagte er. „Damit sie niemand erkennt.“ Dass es sich um einen Werbefilm handelte, erklärte auch, warum es keine Mikrofone gab und wir uns unterhalten konnten. Die meisten Werbeclips sind ja Stummfilme. Der Ton kommt aus dem Off.

„Wird das nicht langweilig?“, fragte ich. „Na ja, kommt schon vor, aber meistens gibt es was zu tun.“ Kurz darauf krächzte eine Stimme aus einem kleinen Walky-Talky, das der Schneemann bei sich trug. „Schnee bitte!“ Er legte einen Knopf um, das Gebläse summte leise und schon wirbelten die Schneeflocken über der Straße. Die Frau in dem Taxi stieg aus und ging auf den Mann zu. Dann krächzte nochmal das Walki-Talki, der Mann stellte die Schneekanone ab und alles war wieder vorbei.

„Man kommt viel rum“, sagte der Schneemann. „Heute Abend geht es noch ins Elsaß.“ Eine Bierwerbung. Ein Mann versinkt im Schnee, wird irgendwie gerettet und bekommt danach zur Erholung ein Bier. Seine Firma sei Marktführer in Europa. Ursprünglich aus England, gäbe es inzwischen einen Deutschen Ableger. Man habe sich den europäischen Markt aufgeteilt und mache den Schnee für praktisch alle Filme. Die Schneekanonen würden in Berlin gefertigt, alles Einzelstücke. „Irgendwo muss hier eine Nummer sein“, sagte er und ging um das schwarze Gebläse herum, fand sie dann aber nicht.

Die Autos, die auf der anderen Straßenseite standen, waren eingeschneit. Im ersten Moment dachte ich, der Schnee müsste doch längst geschmolzen sein. Aber dann fiel mir ein, dass auch das natürlich Kunstschnee ist. „Der wird aus Zellulose hergestellt“, erklärte der Schneemann. „Der bleibt liegen, ist aber schwer wieder abzukriegen.“

Motorsäge

Eine weitere Begegnung auf dem Ku’damm, dem Boulevard des hoffnungslosen Luxus. A. und ich warten am Adenauerplatz auf den Bus. Als A. sich ein wenig von mir entfernt, läuft von der Kreuzung Lewishamstraße eine kleine Frau auf die Haltestelle zu. Im Bruchteil einer Sekunde erkenne ich, dass sie nicht hierher passt und sehe weg. Mir ist es immer peinlich, von Obdachlosen angesprochen zu werden. Aber sie hat mich schon gesehen und offenbar in demselben Bruchteil einer Sekunde erkannt, dass auch ich irgendwie nicht hierher gehöre. Als sie dann vor mir steht, sehe ich, dass sie keine Obdachlose ist. Ihr Gesicht ist dunkelbraun und die zahllosen Falten ihrer Gesichtshaut sehen aus wie die aus großer Höhe aufgenommenen Schluchten eines fernen Planeten. Wahrscheinlich hat sie ihr Leben lang irgendwo im Süden auf dem Feld in der Sonne gearbeitet. Wie alt sie ist, lässt sich kaum sagen. Ihre schwarzen Haare sind von einer gehäkelten gelb-rosa Indio-Mütze bedeckt. Außerdem trägt sie eine olivgrüne Fließjacke, eine dunkle Hose und schwere Stiefel, wie sie auf dem Bau üblich sind.

„Hallo Kollege“, sagt sie und hält mir einen Zettel hin. Darauf steht „Bauhaus Ku’damm“, „Bus M29“ und „S-Halensee“. Mir ist schnell klar, dass mit „Bauhaus“ der Handwerkermarkt bei uns um die Ecke gemeint ist. Und der M29 ist der Bus, auf den auch wir warten. „Ich schon im Bauhaus Wilmersdorfer Straße, aber keine Motorsäge“, sagt sie, „Wo muss ich hin?“. Ihre Stimme ist laut und emphatisch, so, als würde die Motorsäge alle ihre Probleme lösen. Ich sage, dass sie den nächsten Bus nehmen könne und dass wir denselben Weg hätten. Sie solle einfach mit uns mitkommen. Aber sie scheint nicht alles verstanden zu haben, denn einen Moment später fragt sie wieder: „Wo aussteigen?“ und „Dort Motorsäge?“ Als A. sich dann zu uns stellt, streicht die Frau kurz mit der Hand über ihren schwangeren Bauch. „Du Kind?“ Als A. bejaht, lächelt sie und sagt: „Gut so!“

Weil der Bus voll ist, stehen wir im Gang. Auch hier fragt sie immer wieder „Wann aussteigen?“ und ich versuche ihr immer wieder zu erklären, dass wir gemeinsam aussteigen und sie sich keine Sorgen machen müsse. Dann sieht sie A. und mich prüfend an und fragt: „Du wie viel Jahre älter?“ Mir ist die Frage peinlich; wegen ihrer lauten Stimme hört inzwischen der halbe Bus zu. Ein paar Leute lächeln bereits und als ich nichts sage, meint sie: „Zehn Jahre?“ Und dann wieder. „Gut so.“ Als wir S-Bahnhof Halensee aussteigen, zeige ich auf das große Gebäude des Handwerkermarkts auf der anderen Seite der S-Bahn. „Dort Motorsäge?“, fragt sie noch einmal und ich antworte: „Ja, dort Motorsäge“. Wir überqueren an der Ampel noch gemeinsam den Ku’damm und gehen danach in entgegengesetzte Richtungen. Als ich mich auf der Höhe der Imbissbude noch einmal umdrehe, sehe ich, wie sie mit schwankenden Schritten und ihrer gehäkelten Indiomütze auf dem Kopf über die Brücke in Richtung Bauhaus geht.

Zion

Am Ku’damm Ecke Bleibtreustraße steht eine große schlanke Frau. Sie ist vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig, so genau lässt sich dass nicht sagen. Sie trägt einen langen gelben Mantel. Ihre pechschwarzen Haare hat sie – wie es in manchen Gegenden Afrikas Mode ist – mit goldenen Ringen senkrecht nach oben gebunden. Am Ende der dadurch entstandenen, mehr als eine Kopflänge in die Höhe ragenden Säule sprießen die Spitzen ihrer Haare lustig nach allen Seiten. Mit ihren schwarz geschminkten Augen sieht sie in die Bleibtreustraße hinein und ruft mit lauter Stimme: „Zion!“. Es ist nichts zu sehen, aber ich ahne schon, was da jetzt kommen wird, ein verfetteter Dackel oder Ähnliches. „Zion!“, ruft sie noch einmal, aber nichts passiert. Erst als ich fast die Bleibtreustraße erreicht habe, kommt plötzlich ein alter, riesiger Windhund hinter dem Eckhaus hervor und schreitet mit einer der Welt bereits halb entrückten Langsamkeit über den Bürgersteig. Er hat wellige, gelb-braune Haare, die zum Mantel der Frau passen, und ist dünn wie ein Brett. Seinen langen, schmalen Kopf hält er in der Bewegung völlig regungslos, sodass es aussieht, als schwebe er als eine Art Laubsägearbeit über der Straße.

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2024 Berliner Chaussee

Theme von Anders NorénHoch ↑