Motorsäge

Eine weitere Begegnung auf dem Ku’damm, dem Boulevard des hoffnungslosen Luxus. A. und ich warten am Adenauerplatz auf den Bus. Als A. sich ein wenig von mir entfernt, läuft von der Kreuzung Lewishamstraße eine kleine Frau auf die Haltestelle zu. Im Bruchteil einer Sekunde erkenne ich, dass sie nicht hierher passt und sehe weg. Mir ist es immer peinlich, von Obdachlosen angesprochen zu werden. Aber sie hat mich schon gesehen und offenbar in demselben Bruchteil einer Sekunde erkannt, dass auch ich irgendwie nicht hierher gehöre. Als sie dann vor mir steht, sehe ich, dass sie keine Obdachlose ist. Ihr Gesicht ist dunkelbraun und die zahllosen Falten ihrer Gesichtshaut sehen aus wie die aus großer Höhe aufgenommenen Schluchten eines fernen Planeten. Wahrscheinlich hat sie ihr Leben lang irgendwo im Süden auf dem Feld in der Sonne gearbeitet. Wie alt sie ist, lässt sich kaum sagen. Ihre schwarzen Haare sind von einer gehäkelten gelb-rosa Indio-Mütze bedeckt. Außerdem trägt sie eine olivgrüne Fließjacke, eine dunkle Hose und schwere Stiefel, wie sie auf dem Bau üblich sind.

„Hallo Kollege“, sagt sie und hält mir einen Zettel hin. Darauf steht „Bauhaus Ku’damm“, „Bus M29“ und „S-Halensee“. Mir ist schnell klar, dass mit „Bauhaus“ der Handwerkermarkt bei uns um die Ecke gemeint ist. Und der M29 ist der Bus, auf den auch wir warten. „Ich schon im Bauhaus Wilmersdorfer Straße, aber keine Motorsäge“, sagt sie, „Wo muss ich hin?“. Ihre Stimme ist laut und emphatisch, so, als würde die Motorsäge alle ihre Probleme lösen. Ich sage, dass sie den nächsten Bus nehmen könne und dass wir denselben Weg hätten. Sie solle einfach mit uns mitkommen. Aber sie scheint nicht alles verstanden zu haben, denn einen Moment später fragt sie wieder: „Wo aussteigen?“ und „Dort Motorsäge?“ Als A. sich dann zu uns stellt, streicht die Frau kurz mit der Hand über ihren schwangeren Bauch. „Du Kind?“ Als A. bejaht, lächelt sie und sagt: „Gut so!“

Weil der Bus voll ist, stehen wir im Gang. Auch hier fragt sie immer wieder „Wann aussteigen?“ und ich versuche ihr immer wieder zu erklären, dass wir gemeinsam aussteigen und sie sich keine Sorgen machen müsse. Dann sieht sie A. und mich prüfend an und fragt: „Du wie viel Jahre älter?“ Mir ist die Frage peinlich; wegen ihrer lauten Stimme hört inzwischen der halbe Bus zu. Ein paar Leute lächeln bereits und als ich nichts sage, meint sie: „Zehn Jahre?“ Und dann wieder. „Gut so.“ Als wir S-Bahnhof Halensee aussteigen, zeige ich auf das große Gebäude des Handwerkermarkts auf der anderen Seite der S-Bahn. „Dort Motorsäge?“, fragt sie noch einmal und ich antworte: „Ja, dort Motorsäge“. Wir überqueren an der Ampel noch gemeinsam den Ku’damm und gehen danach in entgegengesetzte Richtungen. Als ich mich auf der Höhe der Imbissbude noch einmal umdrehe, sehe ich, wie sie mit schwankenden Schritten und ihrer gehäkelten Indiomütze auf dem Kopf über die Brücke in Richtung Bauhaus geht.

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