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Organe

Manchmal fahre ich nachts, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, mit dem Fahrrad über eine rote Ampel. Normalerweise kostet das 60 Euro, und es gibt einen Punkt in Flensburg. Ist die Ampel länger als eine Sekunde rot, erhöht sich die Strafe auf 100 Euro bei gleicher Punktzahl. Sollte es zu einer Gefährdung oder einem Unfall kommen, kann es bis zu 180 Euro kosten. Aber es gibt auch andere Wege, den Betrag zu erhöhen, wie ich von einem Freund weiß, der nachts einmal mehrere rote Ampeln mit dem Fahrrad überfahren hatte. Zwei Polizisten waren ihm langsam gefolgt und hatten mitgezählt, was ihnen auch deshalb so gut gelang, weil sie die einzigen Autofahrer auf der Straße waren und somit den Verkehr durch langsames Fahren nicht aufhielten. Ich weiß nicht, ob sie irgendwann beschlossen, jetzt sei es genug, oder ob ihnen einfach die roten Ampeln ausgingen, auf jeden Fall hielten sie ihn am Ende an. Auch an die Höhe des kumulierten Betrages erinnere ich mich nicht mehr, nur daran, dass es zwar teuer war, aber ihm wegen der vielen Ampeln ein Rabatt gewährt wurde.

Letztens nun fahre ich mit A. die Kreuzbergstraße hinunter. Es ist ein angenehmes Fahren, denn von Schöneberg aus geht es bergab, und es gibt einen von der Fahrbahn abgetrennten Fahrradstreifen. Rechts neben der Straße befindet sich der Victoriapark, in dem sich der Kreuzberg erhebt, nach dem der Bezirk benannt wurde. Auf der Höhe des künstlichen Wasserfalls mündet von links die Großbeerenstraße ein. Fußgänger und von links einbiegender Autoverkehr werden hier mit einer Ampel geregelt. Ich fahre voraus, halte aber reflexartig an der roten Ampel an, obwohl weder von links kommende Autos noch Fußgänger zu sehen sind. Als A., die aus Irland stammt, an mir vorbeizieht, denke ich, wie deutsch ich doch bin. Danach tröste ich mich mit dem Gedanken, dass ich mich zu nichts zwingen lasse, auch nicht, über eine rote Ampel zu fahren.

Als die Ampel grün wird, überholt mich ein Polzeiwagen und hält A. zweihundert Meter weiter an. Als ich dazukomme, ist die Diskussion bereits im fortgeschrittenen Stadium. Das heißt, es spricht der Polizist, der am Steuer sitzt. Seine Kollegin auf dem Beifahrersitz sieht uns nur schweigend an. Auch A. hat offenbar nichts gesagt, was in solchen Situationen immer die beste Lösung ist. Denn auch wenn die Ampel erst 0,5 Sekunden rot gewesen wäre, also eigentlich nur 60 Euro fällig würden, hätte eine Diskussion darüber nichts gebracht. Sie hätte den Polizisten nur noch mehr motiviert, einen Strafzettel auszustellen. Und vor Gericht haben Polizisten sowieso die besseren Karten. Es hätte für Olympia zertifizierte Zeitmessgeräte bedurft, um nachzuweisen, dass es keine Sekunde rot gewesen war.

Dann wendet sich plötzlich die Polizistin an mich: „Das gilt auch für Sie, Sie sind bereits bei Orange losgefahren.“ An dieser Stelle hätte ich gerne etwas erwidert, aber ich riss mich zusammen und wartete. Der Polizist redete weiter, wobei A. dann irgendwas nicht verstanden hatte. Sie sagte: „Ich hab nicht verstanden, ich komme nicht aus Deutschland.“ „Ach so“, sagte der Polizist und stellte fließend auf Englisch um, ja, er wurde jetzt sogar freundlicher im Ausdruck. Sein Englisch war gar nicht so schlecht, wie ich fand, aber A. winkte später verächtlich ab, als ich das sagte. Am Ende stellte er dann noch eine Frage, wieder auf Deutsch: „Haben Sie einen Organspendeausweis?“ Nachdem wir verneint hatten, durften wir weiterfahren.

Brenner

Schon bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof Brenner sahen wir die Flüchtlinge. Fast alle waren Afrikaner, junge Männer, manche erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und ein paar Frauen, von denen eine ein kleines Kind auf dem Rücken trug. Ihre Stimmung schien nicht schlecht zu sein. Die meisten standen da und beobachteten den Zug, aber manche unterhielten sich auch. Wahrscheinlich ging es darum, ob die Gelegenheit günstig sei mitzufahren. Ich wusste, dass sie nach Deutschland wollten, und ein paar Wochen zuvor hatten einige versucht, auf den Puffern eines Waggons ihr Ziel zu erreichen. Es war nichts passiert, aber der Zug hatte sich verspätet, und die italienischen Polizisten, die auf dem Bahnsteig patrouillierten, wollten wohl vor allem das verhindern.

Auf der Strecke zum Brenner war in einem der kleinen Südtiroler Orte eine Gruppe von fünf Männern in unseren Waggon gestiegen. Sie unterhielten sich lautstark und lachten, sodass A. schon genervt guckte. Wahrscheinlich wollten sie das Wochenende in München verbringen. Als nach einer Weile die ersten Flüchtlinge im Gang auftauchten, machten sie sich über sie lustig. Ich war peinlich berührt. Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil ich das Gefühl hatte, als sei das ganze Elend Afrikas zu uns eingestiegen. Das, was so weit entfernt war, was ich nur von Bildern her kannte, stand jetzt vor mir. Ich hatte Mitleid mit den Männern und Frauen und ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Aber ich tat nichts.

Natürlich hatten die Flüchtlinge die Witze der Südtiroler nicht verstanden. Schüchtern gingen sie den Gang entlang, blieben stehen und sahen sich um. Der Waggon war relativ leer, aber offenbar waren sie sich nicht sicher, ob sie sich auf die freien Plätze setzen sollten. Als der Zug losfuhr, waren in unserem Waggon drei oder vier geblieben. Sie saßen jeder für sich über das ganze Abteil verteilt. A. sagte, sie hätte auf dem Weg zur Toillette gesehen, wie sich einer im Zwischenraum zwischen zwei abgewandte Sitze versteckte hatte.

Nachdem der Zug losgefahren war, kam die Schaffnerin, eine füllige Frau, die sich durch nichts aus der Ruhe zu bringen lassen schien. Gut gelaunt kontrollierte sie unsere Tickets, machte einen Scherz und bat uns, die Papierstreifen der Reservierungen aus den Halterungen über unseren Sitzen zu ziehen. Einige Zeit später tauchten am anderen Ende des Waggons drei Männer und eine Frau von der Bundespolizei auf, die auf einem der österreichischen Bahnhöfe zugestiegen sein mussten. Sie trugen schusssichere Westen und ihre Pistolen baumelten bedrohlich in den Halterungen an ihren Hüften. Jeweils zwei gingen vor und nach den Flüchtlingen. Und immer wenn sie einen Neuen entdeckten, fragten sie: „Do you speak english? Do you have a passport? You come from Ethiopia? You come from Pakistan?“ Keiner der Flüchtlinge antwortete, auch nicht der einzige, der aussah, als käme er aus Pakistan.

Als die Gruppe auf unserer Höhe angelangt war, fragte ich, was denn mit den Männern und Frauen geschehe. „Die werden in ein Flüchtlingslager gebracht“, antwortete einer der Polizisten, „und dann wird geprüft, ob sie Asyl erhalten.“ Dann tauchte die Schaffnerin wieder auf. Sie sagte, sie hätte noch zwei gefunden, zwischen den Sitzen, aber die kämen nicht raus. Wenn sie versuche, sie rauszuziehen, würden sie schreien. Einer der Polizisten ging mit ihr nach hinten und kurz darauf kam er mit einem weiteren Flüchtling zurück.

Polizisten und Flüchtlinge standen noch eine Zeit lang in der Eingangstür zu unserem Abteil. In Kufstein stiegen sie dann aus. Als wir im Münchner Hauptbahnhof den langen Bahnsteig hinuntergingen, sah ich einen der Afrikaner. Er hatte es geschafft. Er ging mit uns in Richtung Ausgang, blieb aber am Ende des Bahnsteigs stehen. Man sah, dass er nicht hierher gehörte. Nicht wegen seiner dunklen Hautfarbe, sondern weil er sich unsicher umsah und weil er kein Gepäck dabei hatte. Er wirkte nicht unzufrieden, aber auch nicht froh. Er schien auf das Kommende zu warten. Ich musste an die Bremer Stadtmusikanten denken, an die Stelle, wo der Esel zum Hahn sagt: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“.

Die Karte

Im Keller des Hauses meiner Eltern hing eine große alte Karte von Schleswig-Holstein. Mein Vater hatte sie wahrscheinlich aus der Dorfschule, wo sie im Unterricht eingesetzt, später jedoch gegen eine neuere ersetzt worden war. Als Kind liebte ich diese Karte, weil sie so viele handgemalte Details enthielt. Wie auf einem Wimmelbild waren kleine Bauernhäuser zu sehen, Kühe, die auf der Weide standen und Eisenbahnen mit rauchenden Dampfloks. Die größeren Städte waren mit charakteristischen Details versehen. Lübeck mit dem Holstentor, Neumünster, wo ich zur Schule gegangen bin, mit den hohen Schornsteinen der der schon zu meiner Zeit verschwundenen Webereien. Vor Kiel, dem Marinehafen, schwamm ein Kriegsschiff in der Bucht.

Ich hatte mich immer schon für die zahllosen Details der Karte interessiert, war vor ihr stehengeblieben, wenn ich irgendwas aus dem Keller holen musste, und für einen Moment lang wie in einen Traum in ihre Welt eingetaucht. Bis ich eines Tages bei Bad Segeberg hängenblieb. Bad Segeberg, dass ist eine kleine Stadt, die durch die Karl-May-Festspiele über die Grenzen Schleswig-Holsteins bekannt geworden ist. Pierre Brice war hier in den 1980er Jahren als Winnetou jeden Sommer auf der Freilichtbühne vor dem Kalkberg gestorben. Ganz oben auf dem Berg, dem winzigen Stück spektakulärem Amerika in Schleswig-Holstein, sah ich eine noch winzigere Fahne. Ich ging mit dem Augen ganz nah an die Karte heran und sah, dass es eine rote Fahne war, mit einem weißen Kreis in der Mitte. Und in diesem weißen Kreis, mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, ein Hakenkreuz.

Rhinebeck

Ich sitze vor dem Café Schaubühne am Lehniner Platz in der Frühlingssonne. Neben mir schieben Mitglieder einer Touristengruppe mehrere Tische zusammen. Es sind Männer und Frauen aus unterschiedlichen Generationen, insgesamt vielleicht zehn, zwölf Personen, die nach und nach eintreffen. Es gibt zwei junge Paare, bei denen eine der Frauen schwanger ist. Dann gibt es die Generation zwischen vierzig und fünfzig. Und es gibt Männer und Frauen, die schon im Rentenalter sind.

Nachdem die Tische zusammengeschoben sind, beginnt einer der jungen Männer die Stühle zu zählen. Das erinnert mich an etwas. Und mir fällt auch gleich ein, an was: das Theater am Abend zuvor. Dort hatte ein Mann im ähnlichen Alter auf der Bühne genau dieselbe Geste gemacht. Auch er hatte mit dem Zeigefinger Stühle gezählt. Stühle, die um einen großen Tisch standen. Einem Tisch, an dem sich eine Familie zum Essen versammeln sollte.

Das Stück heißt „The Apple Family Plays 4: Regular Singing“ von Richard Nelson. Im Rahmen des Festivals Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) wurde es vom Autor selbst inszeniert an der Schaubühne gezeigt. Es geht um eine Familie, die sich am Abend des fünfzigsten Todestages von J.F. Kennedy im Elternhaus von drei Schwestern und einem Bruder in Rhinebeck versammelt. Sowohl das Datum als auch der Ort Rhinebeck, der von Holländischen Siedlern gegründet wurde, sind bewusst gewählt. Und es gibt zahllose weitere Anspielungen auf die mentale Situation der heutigen amerikanischen Mittelschicht, ihre kulturelle Abhängigkeit von Europa, ihre brüchige nationale Identität, die, wie der Bruder an einer Stelle sagt, für ihn nur einen Moment lang wirklich zu spüren war: bei der Trauer um John F. Kennedy.

Das Stück, das dann am Tag darauf vor dem Café gegeben wurde, war nicht nur in der Geste des jungen Mannes, der die Stühle zählte, ähnlich. Es gab auch wie bei der amerikanischen Theaterfamilie eine eigentümlich matriachale Konstellation in der Touristengruppe. Eine Frau, die bereits die Siebzig überschritten haben musste, gab den Ton an. Mit freundlicher, aber lauter Stimme beauftragte sie einen der Männer, ins Café zu gehen und drei Flaschen Wasser und Gläser für alle zu bestellen. Danach rief sie jemanden an und sprach wiederum gut von allen zu hören in ihr Handy. Am Ende gab sie das Telefon an den Mann neben ihr weiter, der in ihrem Alter war und eine Ray-Ban-Sonnenbrille sowie ein knallrotes, tief in die Stirn gedrücktes Basecap trug. „Jemand möchte Dir zum Geburtstag gratulieren.“

Auch auf der Bühne gaben die Frauen den Ton an. Was nicht hieß, dass die Männer im Abseits standen. Im Gegenteil, immer wieder wurden sie ins Zentrum gerückt oder bestimmten vom Hintergrund aus die Szene. So lag unsichtbar für den Zuschauer der geschiedene Ehemann einer der Schwestern im oberen Stockwerk im Sterben. Er wurde von einer Pflegerin betreut, einer Migrantin, die aber bereits Feierabend hatte. Ab- und zu schreckte deshalb die Schwester auf, mit der er verheiratet war, weil sie ein Geräusch von oben zu hören meinte, und ging von der Bühne. Und der Bruder der drei Schwestern lebte zwar weiter weg, in Albany, der Hauptstadt von New York State, wo Rhinebeck liegt; aber die Schwestern beschwerten sich, dass er sie so selten besuche, wo er doch jetzt, nach der Trennung von seiner Frau, allein sei. Immer wieder versuchten sie ihn davon zu überzeugen, nach Rhinebeck zurückzukehren. Am Ende zitiert der Bruder seine Ex-Frau. „Halte dich von deinen Schwestern fern“, hatte sie gesagt. „Die wollen dir nur ihr Leben aufzwingen.“

Im Grunde gilt das, was der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek für den Film sagt, auch fürs Theater. Demnach ist der Film nicht nur ein irreales, künstliches Produkt, sondern er strukturiert auch unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit und wird damit Teil unserer Wirklichkeit. Je länger ich die Touristengruppe vor der Schaubühne beobachtete, desto mehr kamen mir die einzelnen Personen wie Typen aus einem Theaterstück vor. Typen, von denen ich meinte, ihre Geschichte aus ihren Gesten und Gesichtern ableiten zu können. Zum Beispiel der jüngere Mann, der neben dem Geburtstagskind mit der Sonnenbrille und dem Bascap saß. Er trug eine unmodische eckige Brille mit dünner schwarzer Einfassung, ein Modell, das aus den 1980er Jahren stammen musste. Er hatte ein leicht aufgedunsenes Gesicht mit wächserner weißer Haut, so, als wäre er krank oder würde trinken. Er sagte kaum etwas, verfolgte aber auffällig interessiert die Gespräche der anderen. Oder der gut aussehende, braun gebrannte Mann am Ende des Tisches aus der Generation der Rentner. Er trug wie das Geburtstagskind eine Man-Ray-Sonnenbrille, allerdings kein Basecap, sondern hatte seine nur leicht angegrauten dunklen Haare mit Gel nach hinten gekämmt. Er wandte sich dem jungen Paar zu, von der die Frau die schönste in der Gruppe war.

Dann hielt plötzlich eine der älteren Frauen ein kleines schwarzes Gerät in der Hand. Es sollte den Ton ihres Handys verstärkt wiedergeben, gab aber zunächst nur knarzende Töne von sich. Eine Zeit lang ging das Gerät von Hand zu Hand. Es dauerte eine Weile, bis dann statt des Pfeifens und Rauschens eine Stimme zu hören war. Man hatte extra jemand für die Vorführung angerufen.

Am Abend zuvor, auf der Bühne, erzählt die jüngste der Schwestern, dass sie im Museum von Albany eine Figur aus dem Mittelalter gesehen hätte. Eine stehenden Frau, die ihre Hand ein Stück weit von sich entfernt hielt, die Handinnenfläche dem Gesicht zugewandt. Die Figur hätte sie an irgendwas erinnert, sagt sie. Nach einer Weile sei es ihr eingefallen: an jemanden, der auf den Bildschirm seines iPhones blickt. Nur dass die Figur im Museum kein iPhone, sondern ein kleines Kreuz in der Hand hielt.

Wohnmobil

Die Überraschung liegt auf der Straße. Am Samstag fahre ich durch die Cicerostraße und sehe beim Vorbeifahren ein altes Wohnmobil. Es ist eigentlich weiß, aber mit einer baumwurzelartigen schwarzen Struktur bemalt. Auf den weiß gebliebenen Zwischenflächen stehen handgeschriebene Gedichte und Sprüche. Ich halte an und sehe, dass ich nicht der erste bin, den das Auto interessiert. Eine Frau mit zwei Pikinesen steht auf dem Bürgersteig und liest. Weil ich überrascht und irgendwie sofort begeistert bin über dieses eher ungewöhnliche Fahrzeug in dieser eher gewöhnlichen Gegend, sage ich spontan: „witzig, oder?“ und bekomme ein kurzes „Ja“ zur Antwort. Lesend gehe ich um das Fahrzeug herum und als ich wieder an der Seite zum Bürgersteig angekommen bin, sagt die Frau: „Schönes Wochenende noch“. Ich erwidere den Wunsch, die beiden Pikinesen schauen mich noch einmal an und Frau und Hunde gehen weiter.

Die Texte sind unterschiedlich. Ein Gedicht von Robert Gernhardt zum Beispiel, „Siebenmal mein Körper“, dessen erster Vers so geht: „Mein Körper ist ein schmutzig Ding / wie gut, dass er mich hat. / Ich hülle ihn in Tuch und Garn / und mach ihn täglich satt.“ Wobei es hier einen freudschen Verschreiber gibt und es nicht „schmutzig“ sondern „schutzlos“ heißen müsste. Der letzte Vers lautet dann: „Mein Körper ist so unsozial / ich rede, er bleibt stumm. / Ich leb ein Leben lang für ihn. / Er bringt mich langsam um.“ Daneben gibt es viele weise Sprüche, wie den von Augustinus: „Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.“ Oder von Laotse: „Wenn du erkennst, dass es dir an Nichts fehlt, gehört dir die ganze Welt.“ Und von Robin Williams dann an der Fahrertür: „Carpe Diem, nutzet den Tag, Jungs!“ Ich fange an, mit meinem Multifunktionstelefon die Texte abzufotografieren, als ein Mann, Mitte Dreißig mit sommersprossigem Gesicht und Glatze auftaucht. Ich spüre, das ist der Besitzer des Gefährts, und frage, immer noch euphorisiert und in brüderlicher Stimmung: „Gehört der dir?“

„Ja“ – Pause. Der Mann beginnt die Seitentür des Wohnmobils aufzuschließen. „Tolle Idee“, fällt mir ein. „Danke“ – Pause. Jetzt musst du schnell noch eine Frage nachschieben, sage ich mir, das Gespräch in Gang halten. Wer so ein Wohnmobil fährt, ist vielleicht ein interessanter Zeitgenosse in dieser an interessanten Zeitgenossen armen Gegend. „Wohnst Du da drin?“ „Ja“, kommt es und wieder Pause. Vielleicht war das „Du“ zu brüderlich, schließlich ist das eine seriöse Gegend hier, wahrscheinlich oder gerade in den Augen eines Mannes vom fahrenden Volk. Zumindest macht er einen reservierten Eindruck auf mich. Aber auf die Schnelle fällt mir auch keine weitere Frage ein. „Tschüs“, sage ich deshalb und steige wieder auf mein Fahrrad. „Tschüs“, kommt es zurück.

 

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