Herr Bayrak

Herr Bayrak bekommt Besuch. Erst klopft es, dann geht die Tür einen Spalt weit auf und der Kopf einer jungen Frau mit schwarzen, lockigen Haaren schaut herein. Es ist Herrn Bayraks Tochter. „Können wir reinkommen?“, fragt sie. Nachdem Herr Poljakow und ich bejaht haben, tritt sie durch die Tür. Gleich hinter ihr kommt lächelnd Herrn Bayraks Frau, die, im Gegensatz zu ihrer Tochter, ein Kopftuch trägt. Die beiden grüßen freundlich und gehen zu seinem Bett am Fenster. Die Mutter setzt sich auf den Stuhl neben den kleinen Tisch, während sich die Tochter über das Bett beugt und ihren Vater liebevoll auf die Wangen küsst.

Herr Bayrak kann kaum noch atmen. Unter seiner Nase liegt ein dünner, durchsichtiger Schlauch, durch den Sauerstoff fließt. Das Herz macht nicht mehr richtig mit. Der Weg von seinem Bett bis zur Toilette ist für ihn wie der Aufstieg auf einen hohen Berg. Danach sitzt er immer auf der Kante seines Bettes und versucht wieder Luft zu bekommen. „Geht nicht mehr lange“, sagt er einmal. „Alles kaputt: Herz, Lunge, Nieren. Vielleicht ein, zwei Jahre noch.“ Aktuell sind seine Beine angeschwollen, voller Wasser. Deswegen bekommt er Entwässerungstabletten, von denen er aber öfter auf die Toilette muss. Immer wieder, atemlos, den Berg hinauf.

Tagsüber, wenn ich zu ihm hinüberblicke, schläft Herr Bayrak oft. Er liegt auf dem Rücken, nur der Kopf mit der leichten Hakennase, dem grauen Haarkranz und dem akkurat kurz geschnittenen Bart guckt unter der Bettdecke hervor. Die Augen sind geschlossen.

Seit 1960 lebt er in Deutschland. Trotzdem verstehe ich ihn nur schlecht. „Nie richtig Deutsch gelernt“, sagt er bedauernd. Weil Gespräche so anstrengend sind, schweigen wir meistens, und werfen uns nur vielsagende Blicke zu, zum Beispiel wenn Herr Constantini sich mal wieder lautstark bei einer Schwester oder einem Pfleger beschwert. Seine Familie kommt aus einem kleinen Dorf in der Zentraltürkei. „Ein Sohn und zwei Töchter“, sagt er. Die Tochter, die ihn besucht, lobt er: „Fast wie ein Doktor“. Als der Stationsarzt kommt, ist sie es, die mit ihm redet, die genau weiß, was für Medikamente und wieviel er davon bekommt, wie dick seine Beine normalerweise sind und welche Probleme er sonst noch hat. „Die andere Tochter in Westdeutschland“, sagt er. „Die so la, la.“ Sein Sohn macht gerade Urlaub in Antalya.

Um mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen, erzähle ich ihm einmal, dass ich viel Yaşar Kemal gelesen habe. Plötzlich lebt er auf und sagt: „Aber Yaşar Kemal ein Linker!“

Oft, wenn ich nachts aufwache, sitzt Herr Bayrak auf der mir zugewandten Bettkante, sehr gerade, wie eine Statue. Herr Constantinis Bett ist leer, wahrscheinlich schläft er wieder auf seinem Rollstuhl im Eingang an einen der Heizkörper gelehnt. Herr Poljakow schnarcht leise vor sich hin. Im Zimmer ist es dunkel, durch das Fenster scheint der Mond oder eine Straßenlaterne, so genau kann man das nicht erkennen. Von Herrn Bayraks Körper sehe ich nur einen dunklen Schatten.

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