Kategorie: Allgemein (Seite 8 von 12)

Der Schneemann

Als wir um die Ecke gingen, schneite es. Dabei war es bereits April, der zwar auch dieses Jahr in Berlin machte, was er will, aber Schnee war nicht dabei. Es schneite so heftig, dass das Ende der Straße kaum zu sehen war. Erst als wir ein Stück weiter gegangen waren, sah ich dass der Schnee nicht von oben kam, sondern von unten, aus mehreren großen Rohren. Anhand der parkenden Lastwagen und einem Wohnmobil war klar: Hier wird ein Film gedreht. In Berlin trifft man eigentlich jeden Tag auf einen „Dreh“. Aber Dreharbeiten in einer verschneiten Straße bei 12 Grad, nach einem Winter, in dem kaum eine Flocke Schnee gefallen ist, das war dann doch ungewöhnlich.

A. ging schon mal weiter, ich blieb stehen und schaute zu. Wie eigentlich immer an solch einem „Set“ war kaum zu durchschauen, um was für einen Film es sich handeln und wie er aussehen würde. Zwischen dem Chaos der hin- und herwuselnden Leuten, den herumstehenden Apparaten und den oft bis ins letzte Detail ausgetüftelten Ordnung der Bilder des fertigen Films gibt es für den Beobachter einen Widerspruch. Hier standen rund zwanzig Leute herum, einige gaben Anweisungen oder trugen etwas irgendwohin. Aber wer war zum Beispiel der Regisseur? Manchmal ist er an einem auffälligen Schal oder eine rote Mütze zu erkennen oder sitzt auf einem Klappstuhl wie Hitchcock, aber hier war nichts davon zu sehen. Am Straßenrand stand ein Taxi, das nicht wegfuhr. Ein braun gebrannter Mann mit asiatischen Gesichtszügen und elegantem Mantel stand am Straßenrand. Im Taxi selbst befand sich hinter dem Fahrer eine junge Frau, ebenfalls mit asiatischen Vorfahren. Das mussten die Schauspieler sein.

„Eine Bank-Werbung“, sagte der Mann, der sich nach einer Weile neben die Schneekanone stellte. Ich hatte ihn gefragt, was für ein Film hier gedreht würde. Er schien froh, dass er jemanden gefunden hatte, mit dem er sich unterhalten konnte, denn er erzählte gleich weiter. „Die nehmen in Deutschland immer englische Schauspieler und in England Deutsche“, sagte er. „Damit sie niemand erkennt.“ Dass es sich um einen Werbefilm handelte, erklärte auch, warum es keine Mikrofone gab und wir uns unterhalten konnten. Die meisten Werbeclips sind ja Stummfilme. Der Ton kommt aus dem Off.

„Wird das nicht langweilig?“, fragte ich. „Na ja, kommt schon vor, aber meistens gibt es was zu tun.“ Kurz darauf krächzte eine Stimme aus einem kleinen Walky-Talky, das der Schneemann bei sich trug. „Schnee bitte!“ Er legte einen Knopf um, das Gebläse summte leise und schon wirbelten die Schneeflocken über der Straße. Die Frau in dem Taxi stieg aus und ging auf den Mann zu. Dann krächzte nochmal das Walki-Talki, der Mann stellte die Schneekanone ab und alles war wieder vorbei.

„Man kommt viel rum“, sagte der Schneemann. „Heute Abend geht es noch ins Elsaß.“ Eine Bierwerbung. Ein Mann versinkt im Schnee, wird irgendwie gerettet und bekommt danach zur Erholung ein Bier. Seine Firma sei Marktführer in Europa. Ursprünglich aus England, gäbe es inzwischen einen Deutschen Ableger. Man habe sich den europäischen Markt aufgeteilt und mache den Schnee für praktisch alle Filme. Die Schneekanonen würden in Berlin gefertigt, alles Einzelstücke. „Irgendwo muss hier eine Nummer sein“, sagte er und ging um das schwarze Gebläse herum, fand sie dann aber nicht.

Die Autos, die auf der anderen Straßenseite standen, waren eingeschneit. Im ersten Moment dachte ich, der Schnee müsste doch längst geschmolzen sein. Aber dann fiel mir ein, dass auch das natürlich Kunstschnee ist. „Der wird aus Zellulose hergestellt“, erklärte der Schneemann. „Der bleibt liegen, ist aber schwer wieder abzukriegen.“

Motorsäge

Eine weitere Begegnung auf dem Ku’damm, dem Boulevard des hoffnungslosen Luxus. A. und ich warten am Adenauerplatz auf den Bus. Als A. sich ein wenig von mir entfernt, läuft von der Kreuzung Lewishamstraße eine kleine Frau auf die Haltestelle zu. Im Bruchteil einer Sekunde erkenne ich, dass sie nicht hierher passt und sehe weg. Mir ist es immer peinlich, von Obdachlosen angesprochen zu werden. Aber sie hat mich schon gesehen und offenbar in demselben Bruchteil einer Sekunde erkannt, dass auch ich irgendwie nicht hierher gehöre. Als sie dann vor mir steht, sehe ich, dass sie keine Obdachlose ist. Ihr Gesicht ist dunkelbraun und die zahllosen Falten ihrer Gesichtshaut sehen aus wie die aus großer Höhe aufgenommenen Schluchten eines fernen Planeten. Wahrscheinlich hat sie ihr Leben lang irgendwo im Süden auf dem Feld in der Sonne gearbeitet. Wie alt sie ist, lässt sich kaum sagen. Ihre schwarzen Haare sind von einer gehäkelten gelb-rosa Indio-Mütze bedeckt. Außerdem trägt sie eine olivgrüne Fließjacke, eine dunkle Hose und schwere Stiefel, wie sie auf dem Bau üblich sind.

„Hallo Kollege“, sagt sie und hält mir einen Zettel hin. Darauf steht „Bauhaus Ku’damm“, „Bus M29“ und „S-Halensee“. Mir ist schnell klar, dass mit „Bauhaus“ der Handwerkermarkt bei uns um die Ecke gemeint ist. Und der M29 ist der Bus, auf den auch wir warten. „Ich schon im Bauhaus Wilmersdorfer Straße, aber keine Motorsäge“, sagt sie, „Wo muss ich hin?“. Ihre Stimme ist laut und emphatisch, so, als würde die Motorsäge alle ihre Probleme lösen. Ich sage, dass sie den nächsten Bus nehmen könne und dass wir denselben Weg hätten. Sie solle einfach mit uns mitkommen. Aber sie scheint nicht alles verstanden zu haben, denn einen Moment später fragt sie wieder: „Wo aussteigen?“ und „Dort Motorsäge?“ Als A. sich dann zu uns stellt, streicht die Frau kurz mit der Hand über ihren schwangeren Bauch. „Du Kind?“ Als A. bejaht, lächelt sie und sagt: „Gut so!“

Weil der Bus voll ist, stehen wir im Gang. Auch hier fragt sie immer wieder „Wann aussteigen?“ und ich versuche ihr immer wieder zu erklären, dass wir gemeinsam aussteigen und sie sich keine Sorgen machen müsse. Dann sieht sie A. und mich prüfend an und fragt: „Du wie viel Jahre älter?“ Mir ist die Frage peinlich; wegen ihrer lauten Stimme hört inzwischen der halbe Bus zu. Ein paar Leute lächeln bereits und als ich nichts sage, meint sie: „Zehn Jahre?“ Und dann wieder. „Gut so.“ Als wir S-Bahnhof Halensee aussteigen, zeige ich auf das große Gebäude des Handwerkermarkts auf der anderen Seite der S-Bahn. „Dort Motorsäge?“, fragt sie noch einmal und ich antworte: „Ja, dort Motorsäge“. Wir überqueren an der Ampel noch gemeinsam den Ku’damm und gehen danach in entgegengesetzte Richtungen. Als ich mich auf der Höhe der Imbissbude noch einmal umdrehe, sehe ich, wie sie mit schwankenden Schritten und ihrer gehäkelten Indiomütze auf dem Kopf über die Brücke in Richtung Bauhaus geht.

Zion

Am Ku’damm Ecke Bleibtreustraße steht eine große schlanke Frau. Sie ist vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig, so genau lässt sich dass nicht sagen. Sie trägt einen langen gelben Mantel. Ihre pechschwarzen Haare hat sie – wie es in manchen Gegenden Afrikas Mode ist – mit goldenen Ringen senkrecht nach oben gebunden. Am Ende der dadurch entstandenen, mehr als eine Kopflänge in die Höhe ragenden Säule sprießen die Spitzen ihrer Haare lustig nach allen Seiten. Mit ihren schwarz geschminkten Augen sieht sie in die Bleibtreustraße hinein und ruft mit lauter Stimme: „Zion!“. Es ist nichts zu sehen, aber ich ahne schon, was da jetzt kommen wird, ein verfetteter Dackel oder Ähnliches. „Zion!“, ruft sie noch einmal, aber nichts passiert. Erst als ich fast die Bleibtreustraße erreicht habe, kommt plötzlich ein alter, riesiger Windhund hinter dem Eckhaus hervor und schreitet mit einer der Welt bereits halb entrückten Langsamkeit über den Bürgersteig. Er hat wellige, gelb-braune Haare, die zum Mantel der Frau passen, und ist dünn wie ein Brett. Seinen langen, schmalen Kopf hält er in der Bewegung völlig regungslos, sodass es aussieht, als schwebe er als eine Art Laubsägearbeit über der Straße.

Systemwechsel

Ein paar Wochen nach den Anschlägen in Paris hatte ich einen Unfall. Nichts Schlimmes, nur ein Blechschaden. Der Fahrer eines SUV (Sport Utility Vehicle), ein netter älterer Herr, war wegen der Höhe seines Wagens beim Zurücksetzen mit einem kurzen „Rumps“ auf der Motorhaube meines Mietwagens gelandet und hatte im Plastik einen kurzen Riss hinterlassen. Außer ihm saß noch sein Sohn im Auto, ein gut aussehender dunkelhaariger Mann mit kurzem Bart. Ihm gehörte der SUV und als ihm einfiel, dass er den Fahrzeugschein nicht dabei hatte, sagte er zu seinem Vater: „Papa, könntest Du bitte kurz hochgehen, er muss im Flur im Schrank liegen.“ Bis die Polizei eintraf, die ich laut Mietvertrag zu rufen verpflichtet war, unterhielt ich mich mit dem Sohn. Ich fragte danach, was er mache und erfuhr, dass er in der Musikbranche tätig ist und mit seiner Frau und zwei Kindern ein paar Jahre in London gelebt hatte und in eine Wohnung schräg gegenüber gezogen war. Und dass sein Vater in Duisburg wohnt und der Chefgeologe des Eurotunnels gewesen ist.

Nach einer halben Stunde, die wir in der Kälte gewartet und uns unterhalten hatten, trafen endlich in einem Streifenwagen zwei Polizisten ein. Beide waren sehr nett und besonders der eine trat uns gut gelaunt entgegen. Als er fragte, was denn passiert sei, zeigte ich auf den kaum erkennbaren Riss im Plastik der Motorhaube. „Was“, sagte er erstaunt, „das ist ja wie beim Trabbi“. Wir lachten und trugen jeweils unseren Namen und unsere Adressen in Formulare ein und tauschten sie danach aus. Mir fiel auf, dass der Vater promoviert war und einen arabischen Namen trug.

Kurze Zeit später kam der bereits erwähnte Polizist vom Streifenwagen zu uns zurück und sagte, dass jetzt alles aufgenommen sei. Allerdings würde der Verursacher des Schadens noch Post bekommen, leider, eine Geldbuße von 100 Euro wegen Unaufmerksamkeit beim Zurücksetzen. Nach kurzem Bedauern auf beiden Seiten wollten wir gehen, aber der Polizist schien in Plauderlaune und meinte: „Und aufpassen, es laufen Verrückte herum!“ Da die Anschläge von Paris noch nicht lange zurücklagen, dachten wir alle an das Gleiche. Und weil ich das nicht einfach stehen lassen wollte, erwiderte ich, dass es jetzt wichtig sei, nicht in Panik zu geraten. Es entspann sich ein kurzes Gespräch zwischen mir und dem Polizisten über die Beurteilung der Terrorgefahr und sinnvolle Gegenmaßnahmen. Der Polizist vertrat pessimistische Ansichten, ich versuchte gegenzusteuern und optimistischer zu argumentieren. Aber ich konnte ihn nicht überzeugen. Am Ende sagte er: „Aber sehen Sie das nicht auch so, dass wir vor einem Systemwechsel stehen.“

„Kein Wunder“, sagte der Vater, als wir wieder zu unseren Autos gingen, „dass die immer so lange brauchen, bis sie an der Unfallstelle sind.“

Preußenpark

Spätestens seit dem großen Erfolg von „Linie 1“ gilt Wilmersdorf als spießiger Bezirk. In dem Theaterstück des Grips-Theaters treten die sogenannten „Wilmersdorfer Witwen“ auf. Ihr Vorbild in der Realität sind Frauen im fortgeschrittenen Alter, die ihre Männer – zumeist Angestellte oder Beamte im öffentlichen Dienst – überlebt haben. Die Witwenpension, die sie beziehen, erlaubt ihnen ein Leben in Sicherheit und relativem Wohlstand.

Doch die Wirklichkeit hat sich seit der Uraufführung des Stücks vor dreißig Jahren verändert. Nur noch selten treten die Wilmersdorfer Witwen wie im Theaterstück als reaktionäre Furien auf, die mit ihren Regenschirmen gegen Ausländer, Obdachlose und Kinder vorgehen. Statistisch gesehen leben aber im Vergleich zu anderen Berliner Bezirken immer noch die meisten alleinstehenden Frauen im Rentenalter in Wilmersdorf.

Vielleicht lässt sich das Phänomen der Wilmersdorfer Witwen mit der Nähe zur „Deutschen Rentenversicherung Bund“ erklären. Denn früher waren die über 20.000 Angestellten, die hier in einem Konglomerat an Gebäuden arbeiten, Garant der Witwenpensionen. Aber auch in diesem Fall haben sich die Zeiten geändert. Denn jeder, der einmal als Angestellter gearbeitet hat, kennt die Briefe, in denen man Jahr für Jahr die enttäuschende Höhe der zu erwartenden Rente mitgeteilt bekommt.

Am Rand der Deutschen Rentenversicherung nun gibt es einen Park, den „Preußenpark“. Er ist eigentlich kein richtiger Park, sondern nur eine große Wiese, um die es einen Rundweg gibt. Im Sommer, am Wochenende, spielt sich hier bei gutem Wetter ein Schauspiel ab, das bereits in manchem Reiseführer Erwähnung fand und in einem eigentümlichen Gegensatz zur Rentenversicherung und den Wilmersdorfer Witwen steht. Auf der großen Wiese, entlang einer unsichtbaren Straße, sitzen dann thailändische Frauen unter Sonnenschirmen und kochen auf flachen Campingkochern hinter selbstgebastelten Windschutzwänden aus Pappe Spezialitäten aus ihrer Heimat. Mit genügend schönen Wochenenden kann man sich hier in einem Sommer für wenig Geld rentenversicherungsfrei durch die komplette thailändische Küche essen.

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