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Der Weihnachtsmann

Liest man die letzten Texte von Claude Lévi-Strauss‘, die er für die italienische Tageszeitung „La Republica“ geschrieben hat, ist man erstaunt, wie der französische Ethnologe immer wieder gleiche Gebräuche und Vorstellungen bei uns und bei den abgelegensten Kulturen findet. Kulturen, von denen man meint, sie könnten uns nur fremd sein. Zum Beispiel ist eine ähnliche Figur wie der Weihnachtsmann völlig unabhängig von der westlichen Entwicklung bei den Pueblo-Indianern im Südwesten der USA entstanden. Dort verstecken sich Eltern oder andere Verwandte der Kinder hinter Masken und Kostümen als sogenannte „Katachinas“. Genauso wie bei uns der Weihnachtsmann drohen die Katachinas den Kindern, wenn sie ungehorsam waren, oder belohnen sie, wenn sie die Forderungen der Erwachsenen erfüllt haben.

Genauso überraschend ist das Gefühl der Fremdheit, das noch nicht weit zurückliegende Ereignisse in unserer Kultur hervorrufen können. In dem Text „Der gemarterte Weihnachtsmann“ zitiert Lévi-Strauss einen Artikel aus dem „France-Soir“ vom 24. Dezember 1951. Darin wird berichtet, dass am Tag zuvor vor der Kathedrale von Dijon in Anwesenheit von 250 Hortkindern der Weihnachtsmann verbrannt worden war. In einem Kommuniqué der Katholischen Kirche hieß es: „Der Weihnachtsmann wurde geopfert und den Flammen übergeben. Wahrlich, die Lüge vermag im Kinde kein religiöses Gefühl zu wecken und ist in keiner Weise eine Erziehungsmethode. … Für uns Christen muss Weihnachten das Fest der Geburt des Erlösers bleiben.“ Der Weihnachtsmann war in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger unbekannt und fand erst nach 1945 aus den USA kommend eine weitere Verbreitung. Die Aufregung über seine öffentliche Verbrennung war schon damals groß. Aber auch die protestantische Kirche stellte sich hinter die symbolische Hinrichtung. Verteidigt wurde der irrationale Weihnachtsmann in der danach folgenden Diskussion ironischerweise von erklärten Rationalisten.

Lévi-Strauss ging es in allen seinen Büchern immer um ein Verständnis für das uns Fremde. Deshalb die Vergleiche unserer eigenen mit den fremden Gebräuchen und Traditionen. Oft versteckt sich die Ähnlichkeit hinter einer völlig anderen äußeren Erscheinung und ist erst auf einer abstrakten Ebene zu erkennen. So sind die Kostüme der Katachinas ja ganz anders als beim Weihnachtsmann. Die Nähe des Fremden ist hier erst in der Funktion für die Kinder zu erkennen.

Claude Lévy-Strauss: Wir sind alle Kannibalen. Suhrkamp Verlag 2014.

Herr Bayrak

Herr Bayrak bekommt Besuch. Erst klopft es, dann geht die Tür einen Spalt weit auf und der Kopf einer jungen Frau mit schwarzen, lockigen Haaren schaut herein. Es ist Herrn Bayraks Tochter. „Können wir reinkommen?“, fragt sie. Nachdem Herr Poljakow und ich bejaht haben, tritt sie durch die Tür. Gleich hinter ihr kommt lächelnd Herrn Bayraks Frau, die, im Gegensatz zu ihrer Tochter, ein Kopftuch trägt. Die beiden grüßen freundlich und gehen zu seinem Bett am Fenster. Die Mutter setzt sich auf den Stuhl neben den kleinen Tisch, während sich die Tochter über das Bett beugt und ihren Vater liebevoll auf die Wangen küsst.

Herr Bayrak kann kaum noch atmen. Unter seiner Nase liegt ein dünner, durchsichtiger Schlauch, durch den Sauerstoff fließt. Das Herz macht nicht mehr richtig mit. Der Weg von seinem Bett bis zur Toilette ist für ihn wie der Aufstieg auf einen hohen Berg. Danach sitzt er immer auf der Kante seines Bettes und versucht wieder Luft zu bekommen. „Geht nicht mehr lange“, sagt er einmal. „Alles kaputt: Herz, Lunge, Nieren. Vielleicht ein, zwei Jahre noch.“ Aktuell sind seine Beine angeschwollen, voller Wasser. Deswegen bekommt er Entwässerungstabletten, von denen er aber öfter auf die Toilette muss. Immer wieder, atemlos, den Berg hinauf.

Tagsüber, wenn ich zu ihm hinüberblicke, schläft Herr Bayrak oft. Er liegt auf dem Rücken, nur der Kopf mit der leichten Hakennase, dem grauen Haarkranz und dem akkurat kurz geschnittenen Bart guckt unter der Bettdecke hervor. Die Augen sind geschlossen.

Seit 1960 lebt er in Deutschland. Trotzdem verstehe ich ihn nur schlecht. „Nie richtig Deutsch gelernt“, sagt er bedauernd. Weil Gespräche so anstrengend sind, schweigen wir meistens, und werfen uns nur vielsagende Blicke zu, zum Beispiel wenn Herr Constantini sich mal wieder lautstark bei einer Schwester oder einem Pfleger beschwert. Seine Familie kommt aus einem kleinen Dorf in der Zentraltürkei. „Ein Sohn und zwei Töchter“, sagt er. Die Tochter, die ihn besucht, lobt er: „Fast wie ein Doktor“. Als der Stationsarzt kommt, ist sie es, die mit ihm redet, die genau weiß, was für Medikamente und wieviel er davon bekommt, wie dick seine Beine normalerweise sind und welche Probleme er sonst noch hat. „Die andere Tochter in Westdeutschland“, sagt er. „Die so la, la.“ Sein Sohn macht gerade Urlaub in Antalya.

Um mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen, erzähle ich ihm einmal, dass ich viel Yaşar Kemal gelesen habe. Plötzlich lebt er auf und sagt: „Aber Yaşar Kemal ein Linker!“

Oft, wenn ich nachts aufwache, sitzt Herr Bayrak auf der mir zugewandten Bettkante, sehr gerade, wie eine Statue. Herr Constantinis Bett ist leer, wahrscheinlich schläft er wieder auf seinem Rollstuhl im Eingang an einen der Heizkörper gelehnt. Herr Poljakow schnarcht leise vor sich hin. Im Zimmer ist es dunkel, durch das Fenster scheint der Mond oder eine Straßenlaterne, so genau kann man das nicht erkennen. Von Herrn Bayraks Körper sehe ich nur einen dunklen Schatten.

Taxi Berlin

Das Taxi stand bereits vor der Haustür. Ein großer schlanker Mann, dunkelhaarig mit schmalem Gesicht, half mir, die Koffer und den Kinderwagen zu verstauen und den Kindersitz einzubauen. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, A. nach hinten zu unserer Tochter. „Zum Flughafen“, sagte ich und wir fuhren los. Entgegen meiner Befürchtung kamen wir gut voran. Auf der Stadtautobahn war an diesem Morgen wenig los.

Wie immer überlegte ich, wie ich ein Gespräch mit dem Taxifahrer anfangen könnte. Am Tag zuvor waren in Berlin Wahlen gewesen. Seit Jahren war eine Wahl in der Stadt nicht mit so viel Spannung erwartet worden. Die große Frage war, wie die ausländerfeindliche AfD abschneiden würde? – Zum Glück nicht so stark wie in Mecklenburg-Vorpommern. Aber sie kam auf immerhin 14,1 Prozent und stellt damit in einigen Bezirksparlamenten Stadträte. Das Deutsch des Taxifahrer hatte einen starken Akzent und am Armaturenbrett hing ein kleines Schild, auf dem stand: „Ahmed Omar, Taxibetrieb“. Ein Migrant, offenbar, aber vielleicht hatte er einen deutschen Pass.

„Waren sie am Sonntag wählen?, fragte ich.

„Nein“, antwortet der Mann.

„Haben Sie keinen deutschen Pass?

„Doch, aber ich konnte nicht, ich war in Rostock. Ich hab da Familie“, sagte er. „Aber ich hätte AfD gewählt.“

Einen Moment lang war ich irritiert und wusste nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht war es auch bescheuert von mir, das Gespräch mit einer Frage nach der Wahl zu beginnen. Schließlich sind Wahlen, korrekt durchgeführt, geheim, und jemanden nach seinem Wahlverhalten zu fragen, nicht ganz koscher. Aber ich hatte ja gar nicht gefragt, was er gewählt hatte. Doch er nahm offenbar genau das an. Andererseits: Wenn er nicht hätte verraten wollen, was er gewählt hat oder hätte, wäre der Hinweis auf den Familienausflug nach Rostock vollkommen ausreichend gewesen.

„Aber warum denn AfD“, fragte ich schließlich.

Mit seiner rechten Hand wies er über das Amaturenbrett hinaus auf die Stadt und sagte: „Die machen hier wenigstens Ordnung“.

Bilder

Großmütter haben einen großen Hunger nach Bildern ihrer Enkel. Also fuhr ich mal wieder zu Foto-Kapp, um Abzüge der letzten Fotos meiner Tochter machen zu lassen. Namensgeber, Besitzer und einziger Angestellter des Foto-Fachgeschäfts ist Herr Kapp, ein etwa fünfzigjähriger Mann mit Henriquatre-Bart. Manchmal ist Herr Kapp ein bisschen ruppig, denn er ist Berliner, aber seine Abzüge sind gut. Auch sonst hat er mir schon einige Fragen ums Fotografieren kompetent beantwortet. Deswegen gehe ich immer wieder zu ihm, wenn es darum geht, den Hunger der Großmütter zu stillen. Auch wenn die Abzüge teurer sind als im Internet.

Wegen der Menge an Fotos dauerte es diesmal etwas länger, bis die große Maschine im Hinterzimmer des Ladens mit summenden und ächzenden Geräuschen die Fotos ausgespuckt hatte. Ich wartete vorne im Verkaufsraum und betrachtete das Museum der Foto- und Videotechnik, dass Herr Kapp in einem Teil seines großen Schaufensters eingerichtet hatte. Stumm schauten dort analoge Video- und Spiegelreflexkamera in die digitale Welt, alle im betagten Zustand, leicht angestaubt. Was die Video-Kameras anging, hatte ihre Zeit eine Banderole über der langen Vitrine hinterlassen, in der Herr Kapp nun Speicherkarten und Digitalkameras anbot. „Video“ stand dort in gelber Schrift auf schwarzem Grund, bestimmt zehn mal hintereinander. Und obwohl „Video“ als Wort ein bisschen am Aussterben ist, weil selbst im Kino heute Filme mit digitaler Videotechnik projiziert werden und „Film“ einfach cooler klingt, war Herr Kapp ganz up-to-date, zumindest mit der Berliner CDU, die im derzeitigen Wahlkampf Plakate aufgehängt hat, auf denen einfach nur „Mehr Video“ steht. Einerseits verstand das jeder: die CDU will mehr Überwachung. Andererseits hatte sich in einer Zeitung jemand gefragt, ob das hieße, den alten VHS-Videorekorder wieder aus dem Keller hervorzuholen.

Wie dem auch sei, in Herrn Kapps Fotofachgeschäft gibt es einen Widerspruch zwischen der Einrichtung mit Möbeln aus den 1980er Jahren und den in Glasquadern eingekappselten Hologrammen, die man hier mit Hilfe einer Spezialkamera von sich selbst anfertigen lassen kann. Auch der digitale Bilderrahmen auf dem Verkaufstresen passte nicht so recht zum Teppichboden. Er spielte in endloser Folge alle zwei Sekunden Bilder ab. Ich überlegte kurz, ob das die definitive Lösung für den Bilder-Hunger der Großmütter gewesen wäre. Mit einem Internet-Anschluss hätte ich mir auch den Weg zu Herrn Kapp erspart. Ich könnte dann in Echtzeit die neusten Schnappschüsse meiner Tochter in Küche und Wohnzimmer der Omas spielen.

Doch dann tauchte plötzlich in dem Bilderrahmen ein Mann auf. Ich dachte, den kennst Du doch. Ja, das war Herr Kapp persönlich! Dann wechselten die Bilder wieder zu türkisblauem Meer, weißen Sandstränden und kleinen Orten, deren Häuser wiederum aus einem Meer von grünen Bäumen hervorguckten. Und wieder war Herr Kapp zu sehen, aufgenommen vor dem hölzernen Tor zu einem Strand. Außer ihm sah man allerdings keine anderen Personen, ein paar Passanten ausgenommen, die ihm wohl zufällig vor die Kamera geraten waren.

„Wo ist denn das?“, fragte ich, nachdem er einen Kunden bedient hatte und zeigte auf den Bilderahmen. Im Hintergrund mühte sich die Maschine immer noch mit meinen Fotos ab.

„Philippinen.“

„Sieht ja schön aus“, sagte ich.

„Ist es auch“, bestätigte er.

„Aber nicht ganz ungefährlich“, fiel mir ein. „Seit neuestem wird man da ja gleich erschossen, wenn man irgendwelche Drogen bei sich hat. Der neue Präsident hat doch dazu aufgerufen.“

„Ach, das ist übertrieben“, erwiderte er, „das stimmt so gar nicht. Die Bild-Zeitung hat das auch hochgespielt. Das gilt ja nur für Dealer.“

Ich sagte dann noch, dass es nicht ganz einfach wäre, zwischen Dealern und Konsumenten zu unterscheiden, aber Herr Kapp ließ sich seine schönen Bilder nicht kaputt machen. Stattdessen lobte er die Inselgruppe im Pazifik. Seit 2005 sei er jedes Jahr dorthin gefahren. Immer wäre er mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen und nie hätte er Probleme gehabt. „Aber hier fahre ich nicht mehr U- und S-Bahn. Das ist mir zu gefährlich.“

Die Reporterin

In der Cicerostraße, auf der Höhe der Schaubühne, raste uns plötzlich vom Ku’damm kommend ein Polizeiwagen mit Blaulicht entgegen. Dann hörten wir das laute aber unverständliche Rufen eines Mannes, irgendwo hinter dem Theatergebäude. Der Polizeiwagen hielt mit quietschenden Reifen in der Auffahrt zum Künstlereingang. Ein Beamter sprang aus dem Wagen und rannte mit der Hand am Pistolenhalfter in den Durchgang zwischen Theater und Apartmenthaus. Die Atmosphäre war sofort bedrohlich; offenbar handelte es sich hier nicht um die üblichen Dreharbeiten zu einem Krimi. A. blieb stehen und wollte nicht weiter gehen. Ich dachte, was soll uns schon passieren. Der Mann, der geschrien hatte, schien ja in die andere Richtung zu laufen, also von uns weg. Nach einer kurzen Pause hatte ich A. vom Weitergehen überzeugt, aber die Rufe verstummten erst, als wir um die runde Eingangsfront des Theaters herumgegangen waren. Dort sahen wir, wie ein weiterer Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene auf der linken Busspur gegen den Verkehr ein Stück weit den Ku’damm hochraste und ebenfalls in die Cicerostraße einbog. Zwei weitere Einsatzwagen waren in der Ferne zu hören und trafen nach und nach ein. Die Leute, die an den Tischen auf dem Platz vor dem Café Schaubühne saßen, schien das aber nicht mehr zu interessieren. Sie waren bereits zu ihren Gesprächen und ihrem Kaffee zurückgekehrt.

Kurze Zeit später, wir hatten uns ebenfalls an einen der Tische gesetzt, tauchte eine Frau auf, vielleicht hatte sie alles von ihrem Balkon im Apartmenthaus aus beobachtet. Sie trug eine große Brille mit halbhoch getönten Gläsern. Außer einer kleinen Digitalkamera, die locker an einer Schlaufe an ihrer Hand baumelte, hatte sie nichts dabei, keine Jacke, keine Tasche. Es sah so aus, als wollte sie Fotos von der Verfolgungsjagd schießen. „Bild“ ist ja immer auf der Suche nach Hobbyreportern. Die Frau sprach mit der Leiterin des Cafés, die gerade am Nebentisch Mittagspause machte. „Der hat ja immer nur geschrien, »Ich bin unbewaffnet, ich bin unbewaffnet.«“, sagte sie. „Wahrscheinlich ein Diebstahl. Der ist ihnen wohl durch die Lappen gegangen.“

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