Die Süddeutsche Zeitung hat vor ein paar Wochen in ihrem Magazin in der Rubrik „Gefühlte Wahrheit“ eine Grafik veröffentlicht. Unter der Überschrift „Angebot und Nachfrage in Bäckereien“ waren zwei Kreise zu sehen, ein kleiner roter Kreis und ein großer grüner Kreis. In dem kleinen roten Kreis mit der Beschriftung „Was man möchte“ stand „Semmel, ein Laib Brot, Breze“, in dem grünen Kreis mit der Beschriftung „Was es gibt“ eine lange Liste, unter anderem „Joggingschrippe, Kraftikus, Dampfkammerknauzen, Pfennigmuggerl, 3-Fit-Brot, Reformationshörnchen, Roggen’Roll“ usw. A. hatte mir die Liste lachend vorgelesen. Später hat sie die Grafik dann ausgeschnitten und in der Küche an der Heizungstherme aufgehängt.
Dass diese „Gefühlte Wahrheit“ nicht übertrieben ist, habe ich heute in einer der sieben Bäckereifilialen erlebt, die sich hier auf einer Straßenlänge von 500 Metern gegenseitig das Wasser abzugraben versuchen. Es ist die mit Abstand erfolgreichste Filiale, während die anderen, in die sich manchmal stundenlang kein Kunde verirrt, nur dank des deutschen Steuersystems überleben können, mit dem man als Bäckereikettenbesitzer am Ende des Jahres die Verluste einer Filiale mit den Gewinnen einer anderen erfolgreicheren steuerlich verrechnen kann. Als ich heute Morgen den Laden betrat, gab es vor dem Verkaufstresen bereits eine kleine Schlange. Ein Mann gab gerade seine Bestellung auf und ich sah, dass es wieder die neue Verkäuferin erwischt hatte. „Ja, was denn Kaiserbrötchen oder Schrippen?“, fragte sie. Dem Akzent nach zu urteilen stammt sie aus Südost-Europa, wie ja auch sonst viele Bäckereien und Bäckereiangestellte wegen des niedrigen Lohns Migranten sind. Im Hintergrund heulte das Gebläse des Backofens, in dem auf 5 Ebenen die vorgebackten Brötchen „extra-frisch“ fertig gebacken werden. Im Winter kann es passieren, dass man als Brillenträger wegen der hohen Luftfeuchtigkeit beim Betreten des Ladens innerhalb weniger Sekunden erblindet.
„Na, acht Brötchen“, sagte der Mann, der offensichtlich nicht, wie die Süddeutsche Zeitung, aus Bayern kam, denn dann hätte er ja „Semmel“ gesagt. Das Problem ist, dass die neue Verkäuferin nicht besonders gut Deutsch spricht. Und wahrscheinlich noch schlechter versteht, was im Lärm des Ladens bestellt wird. Ich weiß, dass es in einer Fremdsprache zwei zentrale Probleme gibt: das aktive Sprechen und das Hörverständnis. Mit meinem erweiterten Schulenglisch kann ich fast jeden englischen Filmdialog verstehen – aber nur, wenn ich ihn als englische Untertitel mitlesen kann. Fehlen die Untertitel, bin ich also ausschließlich auf mein Hörverständnis angewiesen, verstehe ich meistens Bahnhof. Wahrscheinlich ist die Informationsflut, die das Gehirn bei unterschiedlichen Akzenten, unterschiedlicher Betonung, den verwaschenen Vokalen, all den Dialekten usw. verarbeiten muss gigantisch. Leider meint die neue Verkäuferin auch noch oft, das Richtige verstanden zu haben. Aber wer will schon ständig dumm nachfragen, insbesondere dann, wenn man sich als Fremde im fremden Land sowieso schon dumm vorkommt?
Es hat schon mal zehn Minuten gedauert, bis alle Roggenkrusties, Gipfelstürmer, Kaiserbrötchen und Schrippen inklusive der bereits in den entsprechend komplizierten Registrierkassencomputer eingegebenen Beträge wieder auseinander dividiert, neu aufgenommen und richtig berechnet worden waren. Bisher hat das nicht zu einem Aufstand in der Schlange geführt, die wegen des Erfolges dieser Filiale manchmal bis auf die Straße reicht. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die Kunden hier die Wahrheit fühlen, dass die Verkäuferinnen auf eine ehrliche Weise nett sind, und zwar, weil ihnen die Arbeit Spaß macht. Das ist ja heutzutage, im Service-Zeitalter, nicht selbstverständlich. Und natürlich schmecken hier die Brötchen auch besonders gut. Aber diese gute Laune führt auch dazu, dass sie ihrer neuen Kollegin helfen wollen und in den komplexen Brötchenbestellungsprozess eingreifen. Aber wer hat die Bestellung nun richtig verstanden? – Meist wurde es dadurch nur noch schlimmer.
Sicher, die neue Verkäuferin ist nicht so nett, wie die anderen Verkäuferinnen, sie ist auch nicht besonders sympathisch, ja, sie ist manchmal sogar pampig, wenn sie meint, das Richtige verstanden zu haben, kurz, sie ist eigentlich eine komplette Fehlbesetzung für den Posten. Aber sie tut mir auch leid, weil sie es schwer hat in dieser Straße, in der es eine bayerische Bäckereifiliale neben einer Biobäckerei gibt, in der die türkische Bäckerei wie eine Deutsche aussieht und wo es in der „Ich-bin-Berlin“-Bäckereifiliale Wiener Melange gibt. In der selbst wir Anwohner, wenn wir mal die Filiale wechseln, nicht wissen, wie wir richtig bestellen sollen und deshalb zum international gängigen „mit Händen und Füßen“ greifen und mit dem Finger auf das gewünschten Brötchen oder Brot zeigen. Was aber, wenn die Schlange länger und länger wird, nicht schnell genug funktioniert und dann wieder doch mündlich bestellt wird, d.h. in der Muttersprache, die hier, in den Bäckereien, grundsätzlich eine Fremdsprache ist, wie für die Verkäuferinnen sowieso.