Eine Stadt wie ein Theaterkulisse: Häuser, Straßen, Bäume, aber kaum Menschen. Vielleicht lag es an der warmen Jahreszeit, dass die Leute hier nur für das Nötigste auf die Straße gingen. Vielleicht saßen sie in ihren Gärten, die sich wie Handtücher hinter den Häusern zur Milde hin zogen.
Viele der Häuser standen leer. Die Fenster schwarz, ohne Gardinen. Auf einigen Dächern fehlten schon Ziegel. Manchmal konnte man die alten Inhaber, ihr Geschäft, an einer verblichenen Wandschrift ablesen. Als wir in das alte Gerichtsgebäude traten, dass der Verein „Künstlerstadt Kalbe“ der Stadt für einen symbolischen Preis abgekauft hatte, traten wir in eine Kulisse. Man hätte hier ohne großen Aufwand einen historischen Film über die DDR drehen können. In einem der hinteren Räume standen alte graue Wahlurnen, die das Räumkommando nach der Wende wohl vergessen hatte. Die Stühle daneben hätten gut in den Palast der Republik gepasst. In der ehemaligen Arrestzelle hing das Gitter noch vor dem Fenster. Auf der hölzernen Pritsche hatten die Delinquenten auf ihren Prozess gewartet.
Weiter unten in der Stadt, in einem Zeitungsladen, sah es auch mehr nach einer Inszenierung eines Zeitungsladens aus, als nach einem Ort des Warenaustauschs. Außer einer Auswahl Zeitschriften gab es auf den spärlich belegten Stahlregalen ein Sammelsurium aus kleinen Porzellanfiguren, einer Auswahl Spielsachen und Bilderbüchern. Wir wollten eine Tageszeitung kaufen. Aber auf einem der Regale lag nur jeweils ein Exemplar des „Gardelegener Kreisanzeigers“ und der „Salzwedeler Volksstimme“. Ich suchte weiter nach einem überregionalen Blatt. Doch U., der über das Potentiale-Festival für imporivisierte Musik berichteten wollte, kam es gerade auf die Lokalblätter an. „Steht denn da was über das Potentiale-Festival drin?“, fragte er die Verkäuferin, die hinter einem Tresen stand. Sie nahm eine der beiden Zeitungen in die Hand und blätterte sie durch. U. suchte in der anderen. Immerhin, in beiden stand etwas.
„Gehen Sie auch zum Festival?“, fragte U. „Nö“, sagte die Verkäuferin. Es entstand eine lange Pause. Dann fragte er weiter. „Nicht viel los hier, was macht man denn so abends?“ „Na ja, einer hat immer Geburtstag. Feuerwehrfest und so.“ Wieder gab es eine lange Pause. Die Frau stand hinter ihrem Tresen und bewegte sich nicht. Mir schien, dass sie sich unwohl fühlte. Offenbar wartete sie nur darauf, dass wir wieder gingen. Ich drängte zum gehen.
Es war bald Mittag, die Sonne schien grell wie ein Scheinwerfer vom Himmel. Im Dönerimbiss, wo wir etwas aßen, waren wir die Einzigen. Erst im „Cafe Friedenseck“, das uns zwei Teenager zum Eisessen empfohlen hatten, wurde es belebter. Wir aßen Eis und nach dem Zahlen sprach uns die Kellnerin an. „Ihr seid doch auch auf dem Potentiale-Festival, oder?“, sagte sie. „Hab ich gleich erkannt.“ Es stellte sich heraus, dass sie ursprünglich aus Berlin stammt und sich in einem der Nachbardörfer billig ein Haus mit Garten gekauft hatte.
U. fragte sie, warum die Leute aus der Stadt nicht auf dem Festival sind. „Ich frag ja schon immer die Kolleginnen“, antwortete sie. „Aber die interessiert das nicht.“ Sie sah sich um und wandte sich dann leise an uns. „Wenn Feuerwehrfest ist, dann sind sie alle da. Und saufen. Am nächsten Morgen rufen sie dann an, dass sie nicht kommen können, weil es ihnen schlecht geht.“
Für die Kalber ist es umgekehrt. Nicht ihre Stadt ist das Theater, sondern das Festival. Da steht neben der Kirche ein altertümliches Zelt, vor dem ein orientalischer Teppich liegt. Daneben befindet sich eine mobile Schmiedewerkstadt, in der man an einem kurzen Workshop das Schmieden lernen kann. Die alte Scheune, in der erst Heu und Stroh gelagert und die danach zur Garage umfunktioniert worden war, wird Musik gespielt. Schräge Musik, von komischen Leuten besucht, die von woanders kommen. Aus größeren Städten, weit weg vom Alltag der Stadtbewohner, ihren Wünschen und Problemen.