Monat: August 2019

Stadttheater Kalbe (Milde)

Eine Stadt wie ein Theaterkulisse: Häuser, Straßen, Bäume, aber kaum Menschen. Vielleicht lag es an der warmen Jahreszeit, dass die Leute hier nur für das Nötigste auf die Straße gingen. Vielleicht saßen sie in ihren Gärten, die sich wie Handtücher hinter den Häusern zur Milde hin zogen.

Viele der Häuser standen leer. Die Fenster schwarz, ohne Gardinen. Auf einigen Dächern fehlten schon Ziegel. Manchmal konnte man die alten Inhaber, ihr Geschäft, an einer verblichenen Wandschrift ablesen. Als wir in das alte Gerichtsgebäude traten, dass der Verein „Künstlerstadt Kalbe“ der Stadt für einen symbolischen Preis abgekauft hatte, traten wir in eine Kulisse. Man hätte hier ohne großen Aufwand einen historischen Film über die DDR drehen können. In einem der hinteren Räume standen alte graue Wahlurnen, die das Räumkommando nach der Wende wohl vergessen hatte. Die Stühle daneben hätten gut in den Palast der Republik gepasst. In der ehemaligen Arrestzelle hing das Gitter noch vor dem Fenster. Auf der hölzernen Pritsche hatten die Delinquenten auf ihren Prozess gewartet.

Weiter unten in der Stadt, in einem Zeitungsladen, sah es auch mehr nach einer Inszenierung eines Zeitungsladens aus, als nach einem Ort des Warenaustauschs. Außer einer Auswahl Zeitschriften gab es auf den spärlich belegten Stahlregalen ein Sammelsurium aus kleinen Porzellanfiguren, einer Auswahl Spielsachen und Bilderbüchern. Wir wollten eine Tageszeitung kaufen. Aber auf einem der Regale lag nur jeweils ein Exemplar des „Gardelegener Kreisanzeigers“ und der „Salzwedeler Volksstimme“. Ich suchte weiter nach einem überregionalen Blatt. Doch U., der über das Potentiale-Festival für imporivisierte Musik berichteten wollte, kam es gerade auf die Lokalblätter an. „Steht denn da was über das Potentiale-Festival drin?“, fragte er die Verkäuferin, die hinter einem Tresen stand. Sie nahm eine der beiden Zeitungen in die Hand und blätterte sie durch. U. suchte in der anderen. Immerhin, in beiden stand etwas.

„Gehen Sie auch zum Festival?“, fragte U. „Nö“, sagte die Verkäuferin. Es entstand eine lange Pause. Dann fragte er weiter. „Nicht viel los hier, was macht man denn so abends?“ „Na ja, einer hat immer Geburtstag. Feuerwehrfest und so.“ Wieder gab es eine lange Pause. Die Frau stand hinter ihrem Tresen und bewegte sich nicht. Mir schien, dass sie sich unwohl fühlte. Offenbar wartete sie nur darauf, dass wir wieder gingen. Ich drängte zum gehen.

Es war bald Mittag, die Sonne schien grell wie ein Scheinwerfer vom Himmel. Im Dönerimbiss, wo wir etwas aßen, waren wir die Einzigen. Erst im „Cafe Friedenseck“, das uns zwei Teenager zum Eisessen empfohlen hatten, wurde es belebter. Wir aßen Eis und nach dem Zahlen sprach uns die Kellnerin an. „Ihr seid doch auch auf dem Potentiale-Festival, oder?“, sagte sie. „Hab ich gleich erkannt.“ Es stellte sich heraus, dass sie ursprünglich aus Berlin stammt und sich in einem der Nachbardörfer billig ein Haus mit Garten gekauft hatte.

U. fragte sie, warum die Leute aus der Stadt nicht auf dem Festival sind. „Ich frag ja schon immer die Kolleginnen“, antwortete sie. „Aber die interessiert das nicht.“ Sie sah sich um und wandte sich dann leise an uns. „Wenn Feuerwehrfest ist, dann sind sie alle da. Und saufen. Am nächsten Morgen rufen sie dann an, dass sie nicht kommen können, weil es ihnen schlecht geht.“

Für die Kalber ist es umgekehrt. Nicht ihre Stadt ist das Theater, sondern das Festival. Da steht neben der Kirche ein altertümliches Zelt, vor dem ein orientalischer Teppich liegt. Daneben befindet sich eine mobile Schmiedewerkstadt, in der man an einem kurzen Workshop das Schmieden lernen kann. Die alte Scheune, in der erst Heu und Stroh gelagert und die danach zur Garage umfunktioniert worden war, wird Musik gespielt. Schräge Musik, von komischen Leuten besucht, die von woanders kommen. Aus größeren Städten, weit weg vom Alltag der Stadtbewohner, ihren Wünschen und Problemen.

Miteinander reden

Auf dem Festival für improvisierte Musik in Kalbe, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, stand neben der Kirche ein Zelt. Das eher altertümliche Modell hatte Sebastian, der in Leipzig und Schanghai Philosophie studiert hatte, zusammen mit einem Freund dort aufgestellt. In der Mitte befand sich ein kleines Regal mit einer Auswahl von Büchern. Die „Traurigen Tropen“ des französischen Ethnologen Claude Levi-Strauss lag da neben Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ und Edward W. Saids „Orientalism“. Auf der rechten Seite gab es einen Wasserkocher und einen kleinen Espressoautomaten. Jeder der Festivalteilnehmer konnte sich einen Kaffee oder einen Tee machen lassen. Wir saßen vor dem Zelt auf einem großen alten Teppich mit orientalischem Muster und unterhielten uns.

Lisa erzählte, dass sie in Görlitz wohnt. „Oh“, sagte ich, „gerade noch am AFD-Bürgermeister vorbeigeschrammt.“ Sie lachte und berichtete, dass sie zusammen mit ein paar Freundinnen letztens auf dem AFD-Frauenabend gewesen wäre. Das sei schon schräg gewesen. Erst wären sie reingegangen, aber schnell wieder draußen gewesen. Die Klappen auf beiden Seiten seien gleich runtergangen, hier wir – da ihr. Aber dann hätten sie einen weiteren Versuch unternommen, und am Ende drei Stunden lang mit den AFD-Frauen geredet.

Mia, die gerade hinzugekommen war, sah sie an und sagte: „Das finde ich toll, dass ihr mit denen geredet habt. Echt toll.“ Sie erzählte, dass sie in Duisburg-Nord aufgewachsen ist. Nach längerer Zeit sei sie dorthin zurückgekehrt. Alles wäre verändert gewesen. Libanesische Clans hätten den ganze Stadteil in der Hand. „Und die Polizei macht nichts.“

Ich sagte, dass ein entscheidendes Problem bei der ganzen Diskussion über Kriminalität die Verallgemeinerung der eigenen Erfahrungen sei. Die Kriminalitätsrate in Deutschland gehe ständig zurück, aber die Leute hätten subjektiv das Gefühl, dass es hier immer gefährlicher werde.

Nein, dass sehe sie nicht so. „Die schicken ihre Zwölfjährigen los, weil die nicht verurteilt werden können. Die terrorisieren die Bevölkerung.“ Ihrer Mutter hätten sie eine Bombe ins Wohnzimmer geschmissen. Und sie werde auf der Straße von den Clan-Kindern angespuckt.

Ich erwiderte, dass es im Grunde zu spät sei. Diese Leute, die zum überwiegenden Teil Palästinenser sind, wären während des libanesischen Bürgerkriegs in den 1970er Jahren nach Deutschland geflohen. Sie seien jahrzehntelang staatenlos gewesen und hätten jeden Tag mit Abschiebung rechnen müssen. Sie durften jahrelang nicht arbeiten. Das einzige, auf das sie sich verlassen können, sind ihre Familien. Und die einzige Möglichkeit aus der Armut herauszukommen die Kriminalität. Das entschuldigt nichts, aber man hätte vorher etwas anders machen müssen.

Nein, dass sei ganz falsch, so zu denken, sagte Mia. Sie wäre mal zum Integrationsamt der Stadt gegangen und hätte denen von den Zuständen in Duisburg-Nord erzählt. „Die haben gesagt, dass sei eine rassistische Auffassung. Ich, die ich mit einem Kroaten verheiratet gewesen bin, soll eine Rassistin sein?“

„Wenn man euch so zuhört“, sagte daraufhin Sebastian, „dann könnte man zu der Auffassung kommen, die Polizei wäre regelrecht migranten- und ausländerfreundlich.“

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