Monat: Dezember 2017

Un Angelo

„Isch bin inkontinent, vorne und hinten“, sagt Herr Constantini. Gekrümmt steht er vor seinem Bett und versucht sich, eine Windel umzulegen. Man weiß nie so richtig, ob er mit uns spricht, oder mit sich selbst. „Eij, eij, eij“, stöhnt er vor Schmerzen. Seine Knochen sind voller Athritis, er kann sich kaum noch bewegen. „Warum hilft keiner?“ Ich biete ihm an, nach einer Schwester zu klingeln, aber er sagt: „Will nicht immer klingeln.“ Dann zieht er sich die Unterhose über die Windel.

Herr Constantini stammt aus Palermo. 1962 ist er nach Deutschland gekommen, zunächst nach Göppingen. „Ich war bei Zeiss, haben mich rausgeschmissen, weil ich ein Tag gefehlt habe.“ Danach Umzug nach Berlin, wo er in italienischen Restaurants als Pizzabäcker und Kellner gearbeitet hat. „Das Laufen hat Knochen ruiniert.“ Jetzt geht es nur noch vom Bett zum Stuhl, in den er seinen dicken dunkelblauen Wintermantel so hingelegt hat, dass er ihn im Sitzen anziehen kann. Danach setzt er sich seine Prinz Heinrich Mütze auf, drückt sich langsam vom Stuhl in seinen Rollstuhl und fährt im Schneckentempo rückwärts mit den Beinen abstoßend in Richtung Zimmertür. Zwischen Herrn Poljakows und meinem Bett bleibt er dann meistens stecken, weil an meinem Bett wegen meiner Größe eine Verlängerung angebracht ist. Während er hin- und her rangiert, sehe ich an meinem Fußende, wie er durch die Gläser seiner etwas altmodischen, aber geschmackvollen goldenen Tropfenformbrille schräg nach hinten sieht.

In diesem Moment springt dann meist Herr Poljakow aus seinem Bett. Er ist der einzige von uns, der ohne Probleme gehen kann. Weil Herr Constantini sich rückwärts fortbewegt, bemerkt er Herrn Poljakow erst, als er seinen Rollstuhl an den Griffen nach hinten zieht. „Ah, un angelo, un angelo!“, sagt er und sieht mich dabei an. „Er ist mein Engel.“ Dabei hebt er seine Arme wie der Pabst beim Segnen der Menge. Wir lachen. Herr Poljakow schiebt ihn aus der Tür, Herr Constantini winkt mir noch lächelnd zu und verschwindet dann aus meinem Blickfeld in Richtung Ausgang.

Der Weihnachtsmann

Liest man die letzten Texte von Claude Lévi-Strauss‘, die er für die italienische Tageszeitung „La Republica“ geschrieben hat, ist man erstaunt, wie der französische Ethnologe immer wieder gleiche Gebräuche und Vorstellungen bei uns und bei den abgelegensten Kulturen findet. Kulturen, von denen man meint, sie könnten uns nur fremd sein. Zum Beispiel ist eine ähnliche Figur wie der Weihnachtsmann völlig unabhängig von der westlichen Entwicklung bei den Pueblo-Indianern im Südwesten der USA entstanden. Dort verstecken sich Eltern oder andere Verwandte der Kinder hinter Masken und Kostümen als sogenannte „Katachinas“. Genauso wie bei uns der Weihnachtsmann drohen die Katachinas den Kindern, wenn sie ungehorsam waren, oder belohnen sie, wenn sie die Forderungen der Erwachsenen erfüllt haben.

Genauso überraschend ist das Gefühl der Fremdheit, das noch nicht weit zurückliegende Ereignisse in unserer Kultur hervorrufen können. In dem Text „Der gemarterte Weihnachtsmann“ zitiert Lévi-Strauss einen Artikel aus dem „France-Soir“ vom 24. Dezember 1951. Darin wird berichtet, dass am Tag zuvor vor der Kathedrale von Dijon in Anwesenheit von 250 Hortkindern der Weihnachtsmann verbrannt worden war. In einem Kommuniqué der Katholischen Kirche hieß es: „Der Weihnachtsmann wurde geopfert und den Flammen übergeben. Wahrlich, die Lüge vermag im Kinde kein religiöses Gefühl zu wecken und ist in keiner Weise eine Erziehungsmethode. … Für uns Christen muss Weihnachten das Fest der Geburt des Erlösers bleiben.“ Der Weihnachtsmann war in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger unbekannt und fand erst nach 1945 aus den USA kommend eine weitere Verbreitung. Die Aufregung über seine öffentliche Verbrennung war schon damals groß. Aber auch die protestantische Kirche stellte sich hinter die symbolische Hinrichtung. Verteidigt wurde der irrationale Weihnachtsmann in der danach folgenden Diskussion ironischerweise von erklärten Rationalisten.

Lévi-Strauss ging es in allen seinen Büchern immer um ein Verständnis für das uns Fremde. Deshalb die Vergleiche unserer eigenen mit den fremden Gebräuchen und Traditionen. Oft versteckt sich die Ähnlichkeit hinter einer völlig anderen äußeren Erscheinung und ist erst auf einer abstrakten Ebene zu erkennen. So sind die Kostüme der Katachinas ja ganz anders als beim Weihnachtsmann. Die Nähe des Fremden ist hier erst in der Funktion für die Kinder zu erkennen.

Claude Lévy-Strauss: Wir sind alle Kannibalen. Suhrkamp Verlag 2014.

Herr Bayrak

Herr Bayrak bekommt Besuch. Erst klopft es, dann geht die Tür einen Spalt weit auf und der Kopf einer jungen Frau mit schwarzen, lockigen Haaren schaut herein. Es ist Herrn Bayraks Tochter. „Können wir reinkommen?“, fragt sie. Nachdem Herr Poljakow und ich bejaht haben, tritt sie durch die Tür. Gleich hinter ihr kommt lächelnd Herrn Bayraks Frau, die, im Gegensatz zu ihrer Tochter, ein Kopftuch trägt. Die beiden grüßen freundlich und gehen zu seinem Bett am Fenster. Die Mutter setzt sich auf den Stuhl neben den kleinen Tisch, während sich die Tochter über das Bett beugt und ihren Vater liebevoll auf die Wangen küsst.

Herr Bayrak kann kaum noch atmen. Unter seiner Nase liegt ein dünner, durchsichtiger Schlauch, durch den Sauerstoff fließt. Das Herz macht nicht mehr richtig mit. Der Weg von seinem Bett bis zur Toilette ist für ihn wie der Aufstieg auf einen hohen Berg. Danach sitzt er immer auf der Kante seines Bettes und versucht wieder Luft zu bekommen. „Geht nicht mehr lange“, sagt er einmal. „Alles kaputt: Herz, Lunge, Nieren. Vielleicht ein, zwei Jahre noch.“ Aktuell sind seine Beine angeschwollen, voller Wasser. Deswegen bekommt er Entwässerungstabletten, von denen er aber öfter auf die Toilette muss. Immer wieder, atemlos, den Berg hinauf.

Tagsüber, wenn ich zu ihm hinüberblicke, schläft Herr Bayrak oft. Er liegt auf dem Rücken, nur der Kopf mit der leichten Hakennase, dem grauen Haarkranz und dem akkurat kurz geschnittenen Bart guckt unter der Bettdecke hervor. Die Augen sind geschlossen.

Seit 1960 lebt er in Deutschland. Trotzdem verstehe ich ihn nur schlecht. „Nie richtig Deutsch gelernt“, sagt er bedauernd. Weil Gespräche so anstrengend sind, schweigen wir meistens, und werfen uns nur vielsagende Blicke zu, zum Beispiel wenn Herr Constantini sich mal wieder lautstark bei einer Schwester oder einem Pfleger beschwert. Seine Familie kommt aus einem kleinen Dorf in der Zentraltürkei. „Ein Sohn und zwei Töchter“, sagt er. Die Tochter, die ihn besucht, lobt er: „Fast wie ein Doktor“. Als der Stationsarzt kommt, ist sie es, die mit ihm redet, die genau weiß, was für Medikamente und wieviel er davon bekommt, wie dick seine Beine normalerweise sind und welche Probleme er sonst noch hat. „Die andere Tochter in Westdeutschland“, sagt er. „Die so la, la.“ Sein Sohn macht gerade Urlaub in Antalya.

Um mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen, erzähle ich ihm einmal, dass ich viel Yaşar Kemal gelesen habe. Plötzlich lebt er auf und sagt: „Aber Yaşar Kemal ein Linker!“

Oft, wenn ich nachts aufwache, sitzt Herr Bayrak auf der mir zugewandten Bettkante, sehr gerade, wie eine Statue. Herr Constantinis Bett ist leer, wahrscheinlich schläft er wieder auf seinem Rollstuhl im Eingang an einen der Heizkörper gelehnt. Herr Poljakow schnarcht leise vor sich hin. Im Zimmer ist es dunkel, durch das Fenster scheint der Mond oder eine Straßenlaterne, so genau kann man das nicht erkennen. Von Herrn Bayraks Körper sehe ich nur einen dunklen Schatten.

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