Im Erdgeschoss im Nachbarhaus standen zur Straße hin die Fenster offen. Im Innern war es dunkel, aber man konnte einen Spiegel mit einer Holzeinfassung im Stil des 19. Jahrhunderts erkennen. Im rechten Zimmer stand ein großes Ehebett und eine weiße Kommode, von der die Schubladen aufgezogen waren. Durch den schmalen Durchgang zum Hof trugen zwei Männer mühsam einen riesigen weißen Kunstledersessel auf die Straße, der dort noch zwei Tage später neben einem der Straßenbäume stand. In zweiter Reihe auf der Straße parkte ein kleiner Lieferwagen mit offenen Hecktüren.
Zum Laubhüttenfest hatten sie Ende September im Hof noch mit Dachlatten eine symbolische Hütte aufgebaut. Das Dach bestand aus vereinzelten Tannenzweigen, durch die ich von oben, von unserem schmalen Badfenster aus, hindurchsehen konnte. An der Stirnwand hing ein großes Porträt von Menachem Mendel Schneerson, der mit seinem langen weißen Bart und seinem schwarzen Hut freundlich lächelnd in die Kamera blickt. Manche der Chabad Lubawitscher, lese ich, halten ihn für den Messias, obwohl er selbst das nie geglaubt hat und die Bewegung das offiziell auch nicht so sieht. In Mykolajiw 1902 geboren, war er vor den Deutschen über Frankreich in die USA geflohen und in New York 1994 gestorben.
Anfang Oktober saßen dann rund ein Dutzend Männer und Frauen in der symbolischen Laubhütte und feierten. Eine Lichterkette beleuchtete den langen Tisch, auf dem Glasvasen mit Blumen standen. Einmal brüllte eine Frau aus einem der zahlreichen Fenster unseres großen Hinterhofs „Ruhe“. Tagsüber, wenn ich mit meinem Fahrrad vom Hof fuhr, stand die Hütte leer. Dann war sie wieder verschwunden.
Von der Familie, die in der Erdgeschosswohnung im Nachbarhaus wohnte, habe ich nur wenig mitbekommen. Meistens waren die Rollläden an den Fenstern zur Straße heruntergelassen. Am auffälligsten war der grüne Elektroroller, der immer auf dem Bürgersteig vor der Wohnung stand. Und der kleine junge Mann, der in seinem schwarzen Anzug und schwarzen Hut mit dem Roller in die Westfälische einbog und zur Münsterschen Straße fuhr. Dort war letzten Sommer gerade neben der Synagoge ein Neubau für ein Bildungszentrum der Chabad Lubawitscher fertig geworden. Die Betonpoller, die Sicherheitsschleuse und der hohe Metallzaun erinnern mich immer an ein Gefängnis. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeifahre, denke ich, dass die Sicherheitsmaßnahmen im Grunde eine Niederlage der deutschen Gesellschaft sind. Nach antisemitischen Unruhen in Prag hat Franz Kafka einmal in einem Brief an Milena Jesenska geschrieben: „Eine widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben“. Inzwischen hat die Gemeinde die Betonmauer neben dem Eingang bunt bemalt. „Wir sind ein offenes Haus“, hatte Rabbiner Yehuda Teichtal bei der Eröffnung letztes Jahr gesagt. „Alle Menschen sind bei uns willkommen, Juden, Christen, Muslime, Menschen ohne religiösen Hintergrund“.
Manchmal sah ich den Mann mit seiner Frau und einem Kinderwagen auf der Straße. Und einmal waren an einem Sommerabend, als ich an der Wohnung vorbeiging, die Fenster geöffnet, und ein Mann, der auf einem Fensterbrett saß, fragte mich auf Englisch nach der Uhrzeit. Ich war ein bisschen verwirrt über die Frage. Später fiel mir ein, dass Freitag war und am Freitag, bei Sonnenuntergang, der Schabat beginnt.
Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag genau, aber an einem der Tage nach dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas in Israel, standen mehrere Männer auf dem Bürgersteig vor der Wohnung und diskutierten. Einer von Ihnen war der junge Vater mit dem schwarzen Hut.