Von der Berliner Autorin Irina Liebmann gibt es ein lesenswertes Buch über ihren Vater: „Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolph Herrnstadt“. Herrnstadt war Kommunist, aber bis in die 1930er Jahre hinein einer der wichtigsten Autoren von Theodor Wolfs bürglichem „Berliner Tageblatt“. Nebenbei arbeitete er für den Geheimdienst der Roten Armee, floh aus Nazideutschland erst nach Warschau, dann nach Moskau, kehrte im Mai 1945 zurück und gründete in der sowjetischen Besatzungszone die „Berliner Zeitung“ und das „Neue Deutschland“, dessen Chefredakteur er bis 1953, bis zu seinem Rausschmiss aus der SED war. Es ist ein eindrucksvolles Buch, in dem Liebmann ihren Vater und die teilweise haarsträubenden Widersprüche zu erklären versucht, mit denen er gelebt hat. Obwohl ihn die Partei und die Genossen immer wieder enttäuschten, ja verrieten, und seine Versuche für mehr Realismus und Demokratie in der Partei unterminierten, blieb er bis zu seinem Tod Kommunist.
Bei der Lektüre der politischen Texte Herrnstadts fällt Liebmann die unterschiedliche Verwendung der Personalpronomen „ich“ und „wir“ auf. „Wer »ich« sagt, redet von seiner Schwäche“, schreibt sie. „Das fällt mir auf einmal sehr auf. Wer »wir« sagt, der will um keinen Preis schwach sein, denn wer schwach ist, verliert, und dann wird er getötet – das ist vor allem die Erfahrung der Kommunisten, und überwintert und erlitten ist etwas anderes als verfolgt und getötet.“ Damit ist auch die Verfolgung unter dem Stalinismus gemeint. Denn die meisten Opfer Stalins, das wird oft vergessen, waren überzeugte Kommunisten.
Als ich diese Stelle las, fiel mir ein ganz anderer Text ein, Saša Stanišić „Vor dem Fest“. In diesem Roman des 1992 mit seiner Familie aus Bosnien nach Deutschland geflohenen Autors taucht schon am Anfang ein „Wir“-Erzähler auf. Ein ungewöhnlicher Fall, denn nur selten ist in der Literatur der Gegenwart ein solcher Kollektiverzähler zu finden. „WIR SIND TRAURIG“, heißt der erste Satz. „Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot.“ Ein „Wir“, das mich sofort in den Text gezogen hatte, so, als würde ich Teil des in dem Roman beschriebenen fiktiven uckermärkischen Dorfes mit seinem Stasioffizier, der sich umbringen will, seinen tumben Neonazis, seinen mystischen Frauen und Heimatforschern. Ein „Wir“, das in eingeschobenen Kapiteln immer wieder aufgenommen wird und den eigentümlichen Ton des Romans ausmacht, auch wenn viele Kapitel von einem allwissenden oder – in anderen – von einem personalen Erzähler bestimmt werden. Es ist ein versöhnlicher Roman, auf den die deutsche Gesellschaft offenbar gewartet hat, denn „Vor dem Fest“ wurde zum Bestseller. Maxim Biller hat dem Roman vorgeworfen, im Gegensatz zu Stanicic Erstling „Wohlfühlliteratur“ zu sein. Für ihn ist der Roman Beispiel einer migrantischen „Onkel-Tom-Literatur“, einer Literatur, die ihre eigene Stimme aufgegeben und sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft angepasst hat.