Kategorie: Literatur

Der Garten des Theophrast

Am Ende sagte E. zu mir, man könnte die letzte Zeile vielleicht auch so wie ich lesen. Wir hatten das berühmte Gedicht „Der Garten des Theophrast“ von Peter Huchel diskutiert:

DER GARTEN DES THEOPHRAST

Meinem Sohn

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.

Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub“ bezog sich für mich auf die Widmung, „Meinem Sohn“. Die anderen meinten, dass mit „schutzloses Laub“ die Blätter des Ölbaums gemeint seien. Aber, fragte ich, für was steht dann der Ölbaum?

Das alles ist schon ewig her, die Mauer stand noch und die DDR. E. hatte in Ostberlin eine große Wohnung in dem Haus Ecke Heinrich-Roller-/ Greifswalder Straße. Wir, eine Handvoll Germanistik Studenten und Studentinnen aus Westberlin, trafen uns dort alle zwei Monate mit Studenten und Studentinnen der Humboldt Universität. Organisiert hatte E. die Treffen mit einer ehemaligen Kommilitonin, die inzwischen im Westen lebte. Sie hatte Glück gehabt, weil sie nach der Verlobung mit einem Mann aus dem Westen aus „privaten“ und nicht aus „politischen“ Gründen ausreisen durfte und deshalb wie wir ein Tagesvisum für Ostberlin bekam. Sie studierte mit uns an der FU und fragte in dem Seminar „Lyrik in der DDR“, das auch ich besuchte, ob wir nicht an einem Treffen mit Studenten aus Ostberlin Interesse hätten.

Als ich vor kurzem einem befreundeten Germanisten von unserer damaligen Diskussion erzählte, meinte er, bevor ich sagen konnte, wer welche Position vertreten hat: „Die aus dem Osten haben bestimmt die immanente Interpretation gewählt.“ Ich sah ihn erstaunt an und fragte, warum? „Weil die unverfänglicher ist.“

„Der Garten des Theophrast“ war das erste Mal 1963 in Sinn und Form erschienen. Peter Huchel war seit der Gründung der Zeitschrift 1949 ihr Chefredakteur gewesen und es war die letzte Ausgabe, die er verantwortete. Die SED-Kulturpolitiker wollten ihm einen zweiten, gleichberechtigten Chefredakteur zur Seite stellen, eine Art Aufpasser, der die Zeitschrift wieder auf Parteikurs bringen sollte. Huchel musste schon vorher immer wieder mit der Parteiführung um die Literaturzeitschrift kämpfen, die unter seiner Ägide als die beste im deutschsprachigen Raum galt. Nun war seine Geduld am Ende: Wutentbrannt kündigte er. Es war ein Tiefpunkt seines Lebens in der DDR. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Huchel wurde in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam isoliert und jeder Besuch von der Stasi überwacht. Freunde aus dem Westen bekamen keine Visa mehr und als er 1968 das Rentenalter erreicht hatte, verweigert die DDR-Führung ihm sowohl eine Rente als auch die Ausreise aus der DDR – beides Dinge, die ihm eigentlich gesetzlich zustanden. Erst auf internationalen Druck konnte er 1971 in den Westen ausreisen, wo er, der an der Brandenburgischen Landschaft seiner Kindheit hing, nie mehr ganz heimisch wurde.

„Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer / Und ist noch Stimme im heißen Staub“ – vielleicht, fällt mir heute als Argument ein, sind mit dem Ölbaum die Nachgeborenen gemeint, zu denen auch Huchels Sohn gehörte. Denn die Zeile „die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt“ spielt auf das Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht an. Nur dass es bei Brecht umgekehrt ist und die Gespräche nicht wie Bäume gepflanzt werden, sondern das Gespräch über sie angesichts der Katastrophe des Faschismus als Verbrechen erscheint. Vielleicht stand der Ölbaum für die Jugend und die Hoffnung, die dann in den letzten beiden Zeilen wieder in Frage gestellt werden: „Sie befahlen die Wurzeln zu roden. / Es sinkt dein Licht schutzloses Laub“. Die persönliche Anrede „dein“, dessen „Licht sinkt“, deutet ja ebenfalls auf eine Person hin.

Wie gesagt, unsere Ost-West-Treffen sind lange her. Ich kann mich nur noch dunkel an sie erinnern. Die Frage, ob biografische Bezüge bei der Interpretation von Gedichten statthaft sind oder ob man Gedichte immanent deuten sollte, wurde damals viel diskutiert. Der Germanist Alfred Kelletat zum Beispiel, einer der frühen westdeutschen Huchel-Interpreten, kritisiert seinen englischen Kollegen Peter Hutchinson, der das Gedicht als Reaktion auf Huchels faktischen Rausschmiss bei Sinn und Form interpretiert hatte. Wäre das so, meinte Kelletat, stelle sich die Frage, „ob der Dichter nicht klüger daran getan hätte, einen kulturpolitischen Leitartikel zu verfassen oder sonst seine Meinung deutlicher kundzutun“. Genau das aber konnte Huchel nicht, denn er wusste, dass das die DDR-Führung noch mehr verärgert hätte und die Strafe gegen ihn noch drakonischer ausgefallen wäre. Andererseits ist Kelletats Analyse der formalen Strukturen des Gedichts und der Bezüge zu Theophrast, dem Philosophen und Naturwissenschaftler aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., ebenfalls überzeugend.

„Der Garten des Theophrast“ erinnert mich heute aber noch aus einem anderen Grund an unsere damaligen Treffen. Denn bei Theophrast, der ein Schüler von Aristoteles war, ging es ebenfalls um das Gespräch. Dazu traf er sich mit seinen Schülern in seinem Garten. Führten wir nicht genauso ein Gespräch um der Erkenntnis willen? Die Urnen, auf denen das „weiße Feuer der Verse“ tanzt, erinnern mich an die Friedhöfe, die den Eckhausblock, in dem E. wohnte, umgaben. Auf der Seite der Greifswalder Straße, auf dem Friedhof der Georgen-Parochial-Gemeinde, wurde nicht mehr bestattet; er war seit Jahrzehnten nicht gepflegt worden. Wilde Katzen lebten zwischen Gräbern und Mausoleen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Viele waren eingestürzt und von Sträuchern und Bäumen überwachsen. Die wild wuchernde Vegetation hatte die Wege zu schmalen Pfaden verengt, aber man konnte auf ihnen zwischen den verrosteten schmiedeeisernen Zäunen, die viele Gräber umgaben, spazieren gehen. Für mich hatte der Friedhof etwas von einem verwilderten Garten, und jedes Mal, bevor wir uns bei E. trafen, ging ich dorthin. Und hatte nicht auch der Garten des Theophrast etwas von einem Friedhof, weil er der Legende nach dort begraben wurde?

Nach der Wende wurde der Friedhofswald gerodet. Die schmiedeeisernen Zäune wurden entrostet und gestrichen und alles aufgeräumt, wie die ganze Stadt, im Westen wie im Osten. Klar, ich habe den Friedhof mit dem romantisierenden Wessi-Blick wahrgenommen. Während der DDR-Zeit gab es einfach kein Geld, um ihn in Schuss zu halten. Aber heute erinnert nichts mehr an die anarchische Freiheit der Katzen und Pflanzen. „Gedenke mein Sohn, gedenke derer / die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt“. Nur Huchels Gedicht erinnert mich – und vielleicht nur mich – noch daran.

Der Geruch von Büchern

Denke ich an Weihnachten, denke ich vor allem an den Geruch von Büchern. An das Gefühl, mit der Hand über den Buchrücken zu fahren, die Seiten entlang des Daumens fließen und sich den Geruch der Druckerschwärze in die Nase wehen zu lassen. Ich war kein früher Leser, aber ab vierzehn, fünfzehn wünschte ich mir zu Weihnachten nur noch Bücher. Rückte Heiligabend näher, stieg die Vorfreude, bis ich dann am 24. endlich meine Nase in die noch druckfrisch riechenden Exemplare halten konnte. Welche Freude, welche Erwartung an die Zeit der Lektüre! Dass manches Buch dann eine Enttäuschung war, habe ich schnell wieder vergessen.

Eigentlich verrückt: Was hat der Geruch von Lösungsmitteln, die für den Buchdruck benötigt werden, mit Literatur zu tun? Eigentlich nichts. Zumal dieses, ja, fast erotische Verhältnis zu Büchern, nicht zu unterscheiden ist von anderen Vorlieben, z.B. der zu Modelleisenbahnen. Wie bei den Buchliebhabern versteht auch hier niemand sonst als die Fans selbst das euphorisierende Gefühl, das der ölige Geruch einer alten Märklin Lok hervorruft.

Die Wirkung des sinnlichen Eindrucks von Büchern war und ist wohl immer noch weit verbreitet. Und das sei hier festgehalten, bei aller Sympathie mit den Kollegen von der Modelleisenbahn: Bücher haben einen über das bloße Hobby hinausgehenden Wert. Unsere ganze Kultur basiert nicht nur auf dem Lesen, sondern auch auf dem Schreiben von Büchern. Und – das ist trotz der Misere der Buchbranche das Tröstliche: Sie wird auch weiterhin auf dem Lesen und Schreiben von Texten basieren. Nur dass diese Texte dann vielleicht nicht mehr ausschließlich zwischen zwei Buchdeckeln stehen, sondern im Speicher eines E-Readers. Deren Plastikgeruch dann in die Kindheitserinnerung der heutigen Generationen eingeht.

Oder vielleicht doch der Geruch von Büchern? Letztens brauchte ich ein Kabel für meinen Computer und war in einem Laden, der sich speziell an „Gamer“ richtet. Und staunte. Eigentlich wäre ein schnöder Rechner mit Tastatur, Bildschirm und Joystick genug, um die perfekten, hochaufgelösten ruckelfreien Welten der Computerspiele zu verwirklichen. Was dort aber angeboten wird und sich offenbar prächtig verkauft sind Computer, deren Innenleben hinter einer Glasscheibe wie eine Kathedrale angeleuchtet wird. Deren Wasserkühlung (ja, die werden heiß wie ein Ofen) mit aufwendig drapierten (durchsichtigen!) Schläuchen so inszeniert ist, dass mancher „Bolide“ aussieht wie ein Raumschiff. Kurz: Hier wird alles daran gesetzt, etwas sichtbar, fassbar, hörbar zu machen (das Aufheulen des Lüfters!), was eigentlich in winzigen Schaltungen im Innern unsichtbar und lautlos arbeitet. Ohne Verkörperung, um es mit einem theologischen Begriff zu sagen, geht es offenbar nicht. Und das ist die Chance des Buches! Ist das Buch nicht die schönste Verkörperung des literarischen, ja, des Geistes überhaupt? Und ist sein Geruch, der das Groß- und Kleinhirn links liegen lässt und direkt auf das Zentrale Nervensystem wirkt, nicht die größte Motivation, den Geist gegen alle Verdummung zu hegen und zu pflegen?

Selbstbewusstsein

Auf einer Diskussionsveranstaltung wurde letztens die Schriftstellerin Nino Haratischwili von der Moderatorin gefragt, ob es etwas gäbe, das literarisch für sie nicht darstellbar sei. Haratischwili sah nachdenklich einen Moment lang ins Publikum und antwortete dann: Nein. Wenn die literarischen Fähigkeiten dazu vorhanden wären, sei alles erzählbar. Aber stimmt das? Ist wirklich alles erzählbar? Ist die Wirklichkeit oder auch nur das, was wir darunter verstehen, adäquat in Literatur abbildbar? Können wir das, was wir sagen wollen, wirklich sagen? Viele der heute als Klassiker geltenden Autoren waren sich da alles andere als sicher. Kafka zum Beispiel hielt seine Romane für gescheitert, „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist ein Fragment geblieben und James Joyce hat in „Ulysses“ mit einem gigantischen erzählerischen Aufwand in den unterschiedlichsten literarischen Formen gerade mal 24 Stunden aus dem Leben seines Helden erzählt und auch das hat ihn am Ende nicht überzeugt, weshalb er dann „Finnegans Wake“ schrieb.

Nino Haratischwili ist nicht die einzige Autorin, die heute so denkt. Viele Autoren, die im Augenblick Preise gewinnen und deren Bücher sich gut verkaufen, scheint diese Frage nicht besonders zu beschäftigen. Der heutige Mainstream hat den Realismus des 19. Jahrhunderts in mehr oder weniger abgewandelter Form übernommen. Trotzdem hat mich die Antwort von Haratischwili in ihrer Eindeutigkeit überrascht. Vielleicht hatte sie die Frage nicht richtig verstanden. Aber als ich dann ihren letzten Roman „Das achte Buch. Für Brilka“ las, wurde mir klar, dass sie es ernst meinte. Haratischwili hat ein großes Talent zum Erzählen. Aber dieses Talent verpufft in diesem 1.200-Seiten-Werk bei dem Versuch, anhand einer Familie die komplette georgisch-russisch-europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Oft wirkt das kursorisch, so als hätte sie sich immer wieder gesagt, diese oder jene Katastrophe muss ich noch in die Erzählung einbauen (und man fragt sich, warum gerade eine andere fehlt). Da stehen dann Sätze wie: „In Stalingrad tanzte der Tod seinen wildesten Reigen.“ Vieles hat man auch schon woanders gelesen. Was eigentlich kein Problem wäre, denn Literatur erzählt ja oft die gleichen Geschichten. Interessant ist dann, wie diese Geschichten erzählt werden, ob auf eine neue, andere Weise. „Das achte Buch. Für Brilka“ handelt zwar von den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts, aber das Erzählen selbst hat sich dadurch nicht verändert. Wie gehabt schlüpft die allwissende Erzählerin ungebrochen in alle ihre Figuren, suggeriert, dabei gewesen zu sein, und jeden Schrecken beschreiben zu können. In dieser Hinsicht ist Nino Haratischwilis erzählerisches Selbstbewusstsein ungebrochen.

Wie gesagt, Nino Hartaschwili ist nur ein Beispiel. Viele andere Autoren schreiben heute so wie sie. Und was „Finnegans Wake“ angeht, dem letzten Buch von James Joyce: es gilt als unlesbar. Das unterscheidet diesen Roman von „Ulysses“. Einerseits drückt das ein weiteres Mal ein Scheitern aus. Andererseits ist dieses Scheitern wie bei Kafka und Musil ein grandioses Scheitern. Auf jeden Fall ein Scheitern, das deutlich macht, dass sich eben nicht alles literarisch darstellen lässt.

Russische Literatur

Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für die russische Literatur. Anton Tschechow gehört zu meinen Lieblingsautoren. Den russischen Autoren würde ich einiges verzeihen, aber wenn ich darüber nachdenke, ist da eigentlich nicht so viel zu verzeihen, zumindest was Themen der derzeitigen Diskussion über Russland angeht: Autokratie, Korruption, Verletzung der Menschenrechte. Die allermeisten Autoren, die heute noch eine Bedeutung haben, waren keine Staatsdichter, waren Gegner des Zarismus, die später Geborenen Gegner der Bolschewisten. Und ein zeitgenössischer Autor wie Vladimir Sorokin befindet sich im mehr oder weniger freiwilligen Exil in Berlin, weil ihn Putins Moskau zu sehr an die Sowjetzeit erinnert.

Ausnahmen gab es, wie überall, auch unter den russischen Schriftstellern, zum Beispiel Maxim Gorki, von dem Sinaida Hippius maßlos enttäuscht war, weil er sich nach anfänglich lautstarker Gegnerschaft den Bolschewisten anschloss. Hippius führte im St. Petersburg der Zarenzeit einen sehr erfolgreichen Salon. Sie galt als Skandaldichterin, die für die Zeit blasphemische Gedichte vortrug, aber dann schrieb sie während des Ersten Weltkriegs und der Revolutionszeit ein überraschend hellsichtiges politisches Tagebuch. 1919 floh sie erst nach Polen, dann nach Frankreich, wo sie in Paris 1945 starb. In St. Petersburg kannte sie fast alle Künstler und Intellektuelle. Von Gorki schreibt sie, dass er sich während der Revolution billig mit Antiquitäten Verfolgter eindeckte. Das passt zu seinem aufwendigen Lebensstil, den er auch im Berliner Exil pflegte, und von dem nach dem Ende der Sowjetunion bekannt wurde, dass ihn der sowjetische Staat auf persönlich Anordnung Lenins hin finanziert hat (was er immer abstritt). Am Ende brachten ihn die Schmeicheleien Stalins dazu, in die Sowjetunion zurückzukehren, wo er die Arbeitslager als „pädagogisch wertvoll“ pries. Allerdings war gleichzeitig eine komplette Abteilung des KGB mit seiner Überwachung beschäftigt, denn man traute ihm nicht.

Aber wie gesagt, Gorki war eine Ausnahme. Und Hippius hatte anfangs auch Mitleid mit ihm. Wer sich gegen das Regime aussprach, verlor ja seine Geschäftsgrundlage. Gorki konnte weiter in der Sowjetunion veröffentlichen, weil er sie öffentlich verteidigte. Die Autoren, die das Regime kritisierten, mussten nicht nur ins Exil fliehen, sie verloren auch ihre Leser. Ihre Bücher erschienen in Exilverlagen, aber russische Leser gab es im Ausland nur wenige, und mancher wurde deshalb vergessen, wie zum Beispiel der großartige, gerade wieder ausgegrabene Gaito Gasdanow. Auch Nabokovs erste Romane, die er in den 1930er Jahren in Berlin auf Russisch schrieb und veröffentlichte, wurden kaum wahrgenommen. Erst in den USA, mit seinen auf englisch verfassten Büchern, hatte er Erfolg. Es war also keine einfache Entscheidung, Russland in dieser Zeit den Rücken zu kehren.

Und es gab auch während der Sowjetzeit interessante Autoren jenseits der Samisdat-Literatur. Zum Beispiel den 2003 gestorbenen Weißrussen Wassil Bykow. Bykow hat während des Zweiten Weltkriegs als Partisan gekämpft und alle seine Bücher drehen sich um dieses Thema. Vielleicht sind nicht alle seine Romane so gut wie „Die Schlinge“, aber dieses Buch hat mich nachhaltig beeindruckt. Der Krieg wird hier aus der Sicht von zwei Partisanen geschildert, die versuchen, Lebensmittel für das Überleben ihrer Einheit zu organisieren. Wie in einem Western, in einer einfachen, aber gnadenlosen Situation, werden die Protagonisten an den Rand ihrer Menschlichkeit und darüber hinaus gezwungen. Nur, dass Bykow – besser als fast alle Western – ideologischen Vorgaben entgeht. Einen positiven Helden, der für Gerechtigkeit sorgt, gibt es hier nicht. Und die Deutschen bleiben zwar als Ursache des Krieges präsent, aber nur im Hintergrund, als ständige Gefahr. Wichtiger ist Bykow zu zeigen, dass der Krieg für den Einzelnen sehr schnell zu einer unhinterfragbaren Naturkatastrophe wird, einer Hölle, in der er unmenschliche Entscheidungen treffen muss. Entscheidungen, die ihn – wie wahrscheinlich Bykow selbst – ein Leben lang verfolgen.

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