Schon bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof Brenner sahen wir die Flüchtlinge. Fast alle waren Afrikaner, junge Männer, manche erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und ein paar Frauen, von denen eine ein kleines Kind auf dem Rücken trug. Ihre Stimmung schien nicht schlecht zu sein. Die meisten standen da und beobachteten den Zug, aber manche unterhielten sich auch. Wahrscheinlich ging es darum, ob die Gelegenheit günstig sei mitzufahren. Ich wusste, dass sie nach Deutschland wollten, und ein paar Wochen zuvor hatten einige versucht, auf den Puffern eines Waggons ihr Ziel zu erreichen. Es war nichts passiert, aber der Zug hatte sich verspätet, und die italienischen Polizisten, die auf dem Bahnsteig patrouillierten, wollten wohl vor allem das verhindern.
Auf der Strecke zum Brenner war in einem der kleinen Südtiroler Orte eine Gruppe von fünf Männern in unseren Waggon gestiegen. Sie unterhielten sich lautstark und lachten, sodass A. schon genervt guckte. Wahrscheinlich wollten sie das Wochenende in München verbringen. Als nach einer Weile die ersten Flüchtlinge im Gang auftauchten, machten sie sich über sie lustig. Ich war peinlich berührt. Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil ich das Gefühl hatte, als sei das ganze Elend Afrikas zu uns eingestiegen. Das, was so weit entfernt war, was ich nur von Bildern her kannte, stand jetzt vor mir. Ich hatte Mitleid mit den Männern und Frauen und ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Aber ich tat nichts.
Natürlich hatten die Flüchtlinge die Witze der Südtiroler nicht verstanden. Schüchtern gingen sie den Gang entlang, blieben stehen und sahen sich um. Der Waggon war relativ leer, aber offenbar waren sie sich nicht sicher, ob sie sich auf die freien Plätze setzen sollten. Als der Zug losfuhr, waren in unserem Waggon drei oder vier geblieben. Sie saßen jeder für sich über das ganze Abteil verteilt. A. sagte, sie hätte auf dem Weg zur Toillette gesehen, wie sich einer im Zwischenraum zwischen zwei abgewandte Sitze versteckte hatte.
Nachdem der Zug losgefahren war, kam die Schaffnerin, eine füllige Frau, die sich durch nichts aus der Ruhe zu bringen lassen schien. Gut gelaunt kontrollierte sie unsere Tickets, machte einen Scherz und bat uns, die Papierstreifen der Reservierungen aus den Halterungen über unseren Sitzen zu ziehen. Einige Zeit später tauchten am anderen Ende des Waggons drei Männer und eine Frau von der Bundespolizei auf, die auf einem der österreichischen Bahnhöfe zugestiegen sein mussten. Sie trugen schusssichere Westen und ihre Pistolen baumelten bedrohlich in den Halterungen an ihren Hüften. Jeweils zwei gingen vor und nach den Flüchtlingen. Und immer wenn sie einen Neuen entdeckten, fragten sie: „Do you speak english? Do you have a passport? You come from Ethiopia? You come from Pakistan?“ Keiner der Flüchtlinge antwortete, auch nicht der einzige, der aussah, als käme er aus Pakistan.
Als die Gruppe auf unserer Höhe angelangt war, fragte ich, was denn mit den Männern und Frauen geschehe. „Die werden in ein Flüchtlingslager gebracht“, antwortete einer der Polizisten, „und dann wird geprüft, ob sie Asyl erhalten.“ Dann tauchte die Schaffnerin wieder auf. Sie sagte, sie hätte noch zwei gefunden, zwischen den Sitzen, aber die kämen nicht raus. Wenn sie versuche, sie rauszuziehen, würden sie schreien. Einer der Polizisten ging mit ihr nach hinten und kurz darauf kam er mit einem weiteren Flüchtling zurück.
Polizisten und Flüchtlinge standen noch eine Zeit lang in der Eingangstür zu unserem Abteil. In Kufstein stiegen sie dann aus. Als wir im Münchner Hauptbahnhof den langen Bahnsteig hinuntergingen, sah ich einen der Afrikaner. Er hatte es geschafft. Er ging mit uns in Richtung Ausgang, blieb aber am Ende des Bahnsteigs stehen. Man sah, dass er nicht hierher gehörte. Nicht wegen seiner dunklen Hautfarbe, sondern weil er sich unsicher umsah und weil er kein Gepäck dabei hatte. Er wirkte nicht unzufrieden, aber auch nicht froh. Er schien auf das Kommende zu warten. Ich musste an die Bremer Stadtmusikanten denken, an die Stelle, wo der Esel zum Hahn sagt: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“.