Bei der Suche nach einem neuen Buch, das ich E. vorlesen könnte, stieß ich auf Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Ein Kinderbuch, dass selbst Hugendubel vorrätig hatte, wo sonst die Kids mit zuckrig bemalten Buchdeckeln am Sehnerv über den Verkaufstisch gezogen werden. Ein Kinderbuchklassiker, den ich selbst noch nicht gelesen hatte – es wurde eine verwirrende Lektüre.
Für die, die das Buch wie ich noch nicht gelesen haben: Emil Tischbein, einem zwölfjährigen Jungen, werden auf der Zugfahrt nach Berlin 140 Mark aus seinem Jackett gestohlen. Das Geld hatte seine Mutter mühselig zusammengespart und war für die Berliner Großmutter bestimmt. Es musste Emil, als er eingeschlafen war, von dem Mann gestohlen worden sein, der zuletzt allein mit ihm im Abteil gesessen hatte. Als er aufwachte, war der Mann verschwunden. Doch Emil gelingt es, den Täter im Bahnhof Zoo in der Menge zu erkennen und zu verfolgen. Am Nollendorfplatz, wo der Dieb in einem Hotel absteigt, trifft er auf Gustav, einem Jungen mit einer Hupe, die dann dazu dient, Freunde aus den Hinterhöfen der Umgebung zusammenzurufen. Gemeinsam können die Jungen den Dieb beobachten und am Ende dingfest machen. Emil bekommt die 140 Mark zurück und wird zusammen mit seinen neuen Freunden von der Berliner Presse als Held gefeiert.
So weit, so spannend. Dass der Text die Zeit ganz gut überstanden hat, ließ sich daran ablesen, dass E. zuhörte und mit der Geschichte mitging. Ich war es, der Probleme mit der Lektüre hatte. Die spontane Verbrüderung der Jungen um Emil irritierte mich, ja, um ehrlich zu sein, erschrak ich ein wenig. Diese Selbstverständlichkeit, mit der sich die einen „für die Sache“ unterordnen und die anderen sagen, wo es langgeht. Zwar murrt zum Beispiel der Kleine Dienstag, weil er nicht mit den anderen den Dieb beobachten darf, sondern nur zu Hause am Telefon sitzen und die Aktion koordinieren muss; aber am Ende nimmt auch er seinen Platz ein. Kameraden eben, jeder weiß, wo er zu stehen hat und was er tun muss.
Dass mich das alles so irritierte, lag auch an „Kästner und der kleine Dienstag“ von Wolfgang Murnberger, einem sehenswerten Fernsehfilm, den ich vor einiger Zeit gesehen hatte. Darin geht es um die Freundschaft zwischen Erich Kästner und Hans-Albrecht Löhr, einem Jungen, der 1929, gleich nach dem Erscheinen von „Emil und die Detektive“, dem berühmten Autor begeistert geschrieben hatte. Er besuchte ihn sogar und Kästner war von dem Jungen so beeindruckt, dass eine Freundschaft zwischen beiden entstand und Löhr nicht nur in dem Theaterstück, das 1930 im Theater am Schiffbauerdamm aufgeführt wurde, sondern auch in dem Film von 1931 die Rolle des Kleinen Dienstag spielen durfte. Im Abspann von „Kästner und der kleine Dienstag“ steht, und das war es, woran ich beim Vorlesen von „Emil und die Detektive“ dachte, dass bis auf zwei der Kinderschauspieler alle, auch Hans-Albrecht Löhr, im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Wehrmacht getötet wurden.
Dorothee Schön, von der das Drehbuch zu „Kästner und der kleine Dienstag“ stammt, hat auf ihrer Website Einzelheiten zum Tod von Löhr veröffentlicht. In einem Brief, den einer seiner Kameraden an die Mutter von Löhr schrieb, schildert er dessen Tod: „Hans-Albrecht bekam eine Spähtruppaufgabe am 22. August, die er gut löste, es war schwierig, denn selten ist dort ein Spähtrupp hingekommen. Es war bei Schrenac (?), einem kleinen, von Russen besetzten Ort. Diesen Ort hatte er zu umgehen. Es gelang alles und auf dem Rückweg hatte der verdammte Russe abgeriegelt. Aus allen Rohren schoß er – Hans-Albrecht zog ganz fabelhaft seinen Spähtrupp zurück und er selbst sicherte für seine Kameraden den Rückweg. Als er nun folgte, wurde er durch einen Leberschuss tödlich getroffen. Er hatte einen angenehmen schnellen Tod, vor allem aber hat er seinen Kameraden damit das Leben gerettet, eben durch seine vorbildliche Haltung.“
Es ist gespenstisch: Der Kamerad erzählt von den Umständen, bei denen Hans-Albrecht Löhr getötet wurde, fast so wie Kästner die Geschichte von „Emil und die Detektive“, nur das Löhr jetzt nicht mehr der Kleine Dienstag ist und in der Etappe am Telefon den Einsatz koordiniert, sondern – inzwischen zwanzigjährig – ein Spähtruppführer in der Rolle des „Professors“, der in „Emil und die Detektive“ meistens die Kommandos gibt. Ein Spähtruppführer, der sich am Ende dann beim Rückzug vorbildlich für seine Kameraden opfert. Nur ging es in dem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion nicht um die Beseitigung eines Unrechts, sondern darum, ein Unrecht zu begehen, nämlich ein Land zu verwüsten und seine Bewohner zu töten.
Dorothee Schön, die 2008 noch mit der 88jährigen Schwester von Hans-Albrecht Löhr sprechen konnte, vermutet: „Der Brief des Kameraden scheint vor allem die Mutter trösten und den Menschen in der Heimat das Gefühl geben zu wollen, dass dieses Sterben nicht sinnlos sei. Viel Wahres steckt wahrscheinlich nicht darin, denn Hans-Albrechts Schwester Ruth Finkenstädt erinnerte sich in unserem Gespräch, dass „das Jungchen“ – kaum in Russland angekommen – einen ganz schnellen und sinnlosen Tod gestorben sei. Einen Spähtrupp hat Hans-Albrecht dabei wohl eher nicht geführt.“
Als im Januar 1936 „Emil und die Detektive“ in der Verlagsauslieferung beschlagnahmt wird, versucht Kästner, wie Tobias Lehmkuhl in „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“ schreibt, sich und sein Buch mit einem Brief an das Propagandaministerium zu retten. Die Beschlagnahmung würde ihn besonders schmerzen, schreibt er, „weil sie ein Buch trifft, das wohl von den meisten Deutschen, so sie es gelesen haben, als ein ausgesprochen deutsches Buch angesehen wird“. Mit Hinweis auf die zahlreichen Übersetzungen von „Emil und die Detektive“, meint er, das es „den Kindern anderer Länder eine Vorstellung vom Kameradschaftsgeist und dem Familiensinn des deutschen Kindes“ gibt.
„Aber das Buch ist doch Ausdruck der Solidarität, des Kampfes David gegen Goliath“, hatte ein Freund aufgebracht gesagt, als ich ihm von meinen Irritationen und den Recherchen erzählte. Es stimmt, im Grunde erzählt Kästner in „Emil und die Detektive“ ja von einer Utopie: Dass die Machtlosen, die Kinder, zusammen und wenn jeder seinen Platz einnimmt, die Macht haben, gegen einen Erwachsenen zu gewinnen. Kästner ist ja auch Pazifist und Gegner der Nazis gewesen, seine Bücher wurden 1933 auf dem heutigen Bebelplatz neben der Staatsoper verbrannt. Aber „Emil und die Detektive“ war das einzige Buch von Kästner, das unter seinem Namen noch nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland verlegt werden durfte. Ende 1935 war dann auch damit Schluss.
Kästner konnte danach allerdings entgegen seinen Nachkriegsbehauptungen weiter unter Pseudonym Unterhaltungsromane schreiben, die im Ausland verlegt und nach Deutschland importiert wurden. Als das ab Anfang 1936 nicht mehr ging, blieben ihm die Drehbücher, die er in Kooperation mit anderen und unter Pseudonym für die UfA schrieb. Für das Drehbuch von „Münchhausen“, einem Monumentalfilm mit Hans Albers, bekam er 115.000 Reichsmark, was der heutigen Kaufkraft von über 500.000 Euro entspricht. Von dem Geld konnte er nach seinem totalen Veröffentlichungsverbot 1943 gut bis zum Kriegsende leben.
Einen Tag, nachdem ich E. den Roman fertig vorgelesen hatte, dann eine neue „Emil und die Detektive“-Irritation. Wie in einem feministischen Lehrbuch sagte E. plötzlich: „Frauen kochen doch den Kaffee und schmieren die Brötchen, oder?“ Das war die Rolle von Pony Hütchen, der Cousine von Emil aus Berlin. Eine Nebenfigur, mit der man sich als Mädchen auch heute noch gut identifizieren kann, denn sie ist streitlustig und selbstbewusst. Aber wie die Jungen fügt auch sie sich emphatisch in ihre Rolle und bringt bei der konzertierten Aktion der Jungen das Frühstück. Immerhin formulierte E. ihren Eindruck als Frage, offenbar schien es für sie einen Widerspruch zwischen dem Buch und ihrer heutigen Wirklichkeit zu geben.
Dann, ein paar Tage später fiel mir ein, dass ich der Grund war, warum sie das fragte. Ich hatte mich schon während des Vorlesens über die Rolle von Pony Hütchen aufgeregt und gesagt: „Na klar, die Frauen kochen den Kaffee und schmieren die Brötchen.“ E. hatte die Ironie in meiner Stimme nicht verstanden. Das hatte ich im ersten Moment völlig vergessen. Aber ich glaube, sie verstand es, als ich zu ihr sagte, ja, es gab Zeiten, da hat man das so gesehen. Aber das Buch ist alt, fast hundert Jahre, heute ist das nicht mehr so. Heute kochen auch die Männer den Kaffee.