Der Himmel war strahlend blau, als um zwanzig nach neun der Zug in Przemysl einfuhr. Ich packte meine Sachen zusammen, stieg aus und ging den langen Bahnsteig in Richtung Unterführung. Für eine 60.000-Einwohner-Stadt ist der Bahnhof eigentlich zu groß. Aber es handelt sich in Wirklichkeit auch um zwei Bahnhöfe. Denn vier der zehn Gleise sind für die russischen Breitspurzüge vorgesehen. Zu erreichen sind sie nur über einen separaten Eingang. Von dort kann man dann quer durch die Ukraine bis nach Minsk, Moskau oder in den Süden nach Odessa reisen. Mein Zug, der mich um 13:10 Uhr nach Lemberg bringen sollte, fährt zwei Mal am Tag von Przemysl nach Kiew und zurück.

Der große Bahnhof weist auch auf die Bedeutung Przemysls als wichtige Grenzstation zur Ukraine hin. Erbaut haben ihn Anfang des zwanzigsten Jahrhundert die Österreicher, die hier bis zum Ende des Ersten Weltkriegs herrschten. Sie haben der Stadt kein Glück gebracht, auch wenn die Pracht des liebevoll restaurierten Empfangsgebäudes mit seinen Säulen, Verzierungen und Wandgemälden etwas anderes versprach. Denn neben dem Bahnhof haben die Habsburger zwei Festungsgürtel um den strategisch wichtigen Ort gelegt. In den zahlreichen dazugehörenden Forts waren 130.000 Soldaten stationiert. Lange florierte die Stadt auch durch die große Garnison. Aber dann kam es umso schlimmer. Przemysl wurde monatelang von der russischen Armee belagert. Über 100.000 Menschen starben hier allein bis 1915.

Die Bahnhofshalle ist von der Sonne hell erleuchtet. Auch der lange Gang zur Bahnhofsgaststätte, „Perle von Przemysl“, ist lichtdurchflutet. Sie besteht aus einem riesigen Raum, der wie die Bahnhofshalle über zwei Etagen hoch ist. Auch hier Wandgemälde und hoch oben eine zweite Reihe von Fenstern, die den Eindruck erwecken, als hätte man die Decke zum ersten Stock einfach weggelassen. In Deutschland gab es bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ähnlich eindrucksvolle Bahnhofsgaststätten. Dann kamen die Autos, die Flugzeuge und am Ende das Controlling der Deutschen Bahn AG mit ihren Boutiquen und McDonalds.

Ich bin fast allein. An einem Tisch am Fenster sitzt nur noch ein Paar. Die Bedienung kann kein Englisch, aber der Besitzer, den sie herbeiruft, kann es umso besser. Es ist ein jungen Mann, korrekt gekleidet, mit kurz geschnittenem Bart. Bei ihm bestelle ich ein Frühstück, das kurz darauf kommt und mit seinen gebratenen Würstchen sehr englisch ist.

Danach habe ich noch Zeit und gehe in die Stadt. Weil ich keinen Stadtplan habe, laufe ich zufällig gewählte Straßen um den Bahnhof entlang. Ich lande vor einem Gebäude, das durch seine ungewöhnliche Form mein Interesse weckt: hohe Fenster und ein niedriges, abgerundetes Dach. Aber erst der Blick auf eine Tafel neben der Eingangstür bringt mich auf die Spur. Es handelt sich um eine ehemalige Synagoge, 1910 errichtet von Moische Steinbach, nach der sie auch benannt ist. Kurz vor der Übergabe an die Sowjets, die gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt den südöstlichen Teil von Przemysl besetzten, wurde sie von den Deutschen zusammen mit einem Großteil des jüdischen Viertels niedergebrannt, im Gegensatz zur Hauptsynagoge jedoch nach dem Krieg wieder aufgebaut.

Vor der deutschen Besetzung Polens gab es in Przemysl und Umgebung etwa 30.000 Juden. Zwischen dem 15. und 19. September 1939 ermordeten Mitglieder der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD unter Beteiligung der Wehrmacht 600 Juden. 1942 wurden 24.000 Juden aus Przemysl und Umgebung nach Belcec deportiert und dort ermordet. Aber es gab auch zwei Deutsche, die in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt werden. Der Rechtsanwalt und Oberleutnant Albert Battel, NSDAP-Mitglied seit 1933, rettete zusammen mit seinem Vorgesetzten, Major Max Liedtke, Juden vor der Deportation. Battel ließ nach Absprache mit Liedtke am 27. Juli 1942 die Brücke über den San sperren. Es war damals die einzige Möglichkeit, über den Fluß in den nördlichen Teil der Stadt zu gelangen. Unter Androhung von Waffengewalt konnte er die SS davon abhalten, in das dort von den Deutschen eingerichtete Ghetto einzumaschieren, um die Juden zu deportieren. Er und Liedtke transportierten danach mit Hilfe von zwei Lastkraftwagen Juden mit ihren Familien aus dem Ghetto und versteckten sie zeitweilig auf dem Gelände einer Wehrmachtskaserne. Sie legitimierten ihre Aktion damit, dass die Juden als Arbeitskräfte für die Wehrmacht unverzichtbar wären. Am Ende konnten sie etwa fünfhundert von ihnen retten.

Im Ganzen gesehen blieben Battel und Liedke eine Ausnahme, so selten, dass es nicht ins Gewicht fällt. Aber erwähnenswert. Erwähnenswert ist auch, dass sich beide, nachdem ihre Aktion bekannt wurde, nur geringen Disziplinarstrafen ausgesetzt sahen. Nach geheimen Ermittlungen gegen Battel wollte ihn Heinrich Himmler zwar wegen „Judenfreundlichkeit“ aus der Partei werfen; interessanterweise aber erst nach dem Krieg. Offenbar fürchtete er, mit seinem Rausschmiss zu viel Aufsehen zu erregen und damit Aufmerksamkeit auf die Ermordung der Juden zu ziehen.

Battel schied 1944 wegen eines Herzleidens aus dem Militärdienst aus, überlebte den Krieg und starb 1952. Bezeichnend ist das Entnazifizierungsverfahren, dem er sich wegen seine NSDAP-Mitgliedschaft ausgesetzt sah. In dem Spruchgerichtsverfahren wurde ihm ein konkreter Fall der Nutznießerschaft bei der Arisierung vorgeworfen. Es gab auch Zeugen, die, neben denen, die ihm die korrekte Behandlung von Juden bescheinigten, behaupteten, er habe mit der Gestapo gedroht. Die Widersprüchlichen Angaben führten dazu, dass er als Mitläufer eingestuft wurde und seinen Anwaltsberuf nicht mehr ausüben durfte. Weil er so früh starb, wurde er – im Gegensatz zu allen anderen Juristen, die dem NS-Regime gedient hatten – nach der Gründung der Bundesrepublik nicht rehabilitiert. Unter ihnen waren auch zahllose Verbrecher, die, ohne dazu verpflichtet zu sein, Todesurteile für geringfügige Vergehen verhängt hatten, wie z.B. illegales Schlachten eines Schweins, Bau eines Kurzwellensenders, mit dem man „Feindsender“ hören konnte usw. Alle arbeiteten als Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte weiter und starben ohne für ihre Taten belangt worden zu sein.

Die Sonne schien auf die Synagoge, die nach dem Krieg als Stadtbibliothek genutzt worden war. Was sich heute in dem Gebäude befindet, konnte ich nicht herausfinden. Ich machte ein paar Fotos, auch von den daneben stehenden unrenovierten Häusern mit ihren pittoresken Balkonen. Das Vergehen der Zeit ließ sich am abplatzenden Putz der Fassaden ablesen – ein sichtbarer Hinweis auf die unsichtbare Geschichte der Stadt.