Draußen dämmerte es. Ich schaltete die Leselampe über dem Kopfende meiner Liege ein und griff zu dem Buch, das ich für die Reise mitgenommen hatte: Isaak Babel, „Der Besuch der Kaiserin“. Babels Erzählungen, so hatte ich gedacht, wären eine gute Lektüre für Lemberg. In Odessa geboren, war er 1920 während des polnisch-sowjetischen Krieges als Berichterstatter mit der berühmten Reiterarmee Budjonys durch Galizien gezogen. Allerdings hatte er wenig Schmeichelhaftes von der Brutalität und dem Antisemitsmus der für die Rote Armee kämpfenden Kosacken zu erzählen. Sicher, ich hätte auch einen Reiseführer lesen können. Aber der strukturiert die Wahrnehmung auf eine eher konventionelle und – wie ich fand – uninteressante Weise. Babel dagegen würde meinen Blick vielleicht auf Dinge richten, die in keinem Reiseführer stehen.
Doch ich hatte lange nichts mehr von ihm gelesen. Gleich die erste Erzählung, „Der alte Schloime“, ist von einer bodenlosen Traurigkeit. „Unser Städtchen ist zwar nicht groß“, beginnt Babel im gemütlichen Ton vieler russischer Romane und Erzählungen des 19. Jahrhunderts, „sämtliche Einwohner lassen sich herzählen, und der alte Schloime hat hier sechzig Jahre lang ununterbrochen gelebt“. Aber die Stimmung schlägt schnell um: „Dennoch würde Ihnen nicht jeder sagen können, wer Schloime ist und was er vorstellt. Das kommt, weil man ihn einfach vergessen hat, wie man einen unnützen Gegenstand vergisst, der einem selten ins Auge fällt.“
Mich bedrückte dieser Anfang. Besonders die Stelle, „wie man einen unnützen Gegenstand vergisst, der einem selten ins Auge fällt“. Ein Mensch, der zu einem Ding geworden ist. Den man, weil er zu nichts nütze ist, einfach vergisst. Kann es noch schlimmer kommen? – Ja, es kann, denn eines Tages sagt Schloimes Sohn, der ihm immerhin noch eine Ecke zum Schlafen und zu essen gegeben hat, dass sie verjagt werden und das „Städtchen“ verlassen müssten. Schloime aber fühlt sich mit seinen 86 Jahren zu alt, um noch einmal die Strapazen eines Neuanfangs auf sich zu nehmen. Völlig verzweifelt bringt er sich um.
Je länger ich über diese kleine Erzählung von 1913 nachdachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass Babel darin prophetisch die Ereignisse vorwegnahm, die Polen und die Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert prägen würden. Oder genauer gesagt: Man kann sie, wenn man will, deutlich aus der Erzählung herauslesen. Denn die Gewalt und die Vertreibung, die die Juden hier zum wiederholten Mal erleiden, würde im 20zigsten Jahrhundert auch die restliche Bevölkerung treffen. Polen, die Ukraine, Weißrussland bis hin zu den baltischen Staaten, das waren die „Bloodlands“, wie es der amerikanische Historiker Timothy Snyder ausgedrückt hat. Eine Gegend, die im letzten Jahrhundert ständiger Gewalt ausgesetzt war. In der mit schätzungsweise 14 Millionen Toten ein Menschenleben so wenig wert war wie das Schloimes. Antisemitische Progrome, Erster Weltkrieg, polnisch-sowjetischer Krieg, russischer Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung, Gulag, Zweiter Weltkrieg, Holocaust und nach dem Zweiten Weltkrieg die „Umsiedlungen“, die de facto ethnischen Säuberungen waren. Die Polen wurden aus der Westukraine auf das Territorium des heutigen Polen vertrieben und zogen in Ostpreußen, Pommern und Schlesien in die Häuser und Wohnungen der geflohenen Deutschen. Und aus dem Südosten Polens mussten die Ukrainer in die heutige Westukraine ziehen, in die Häuser und Wohnungen der vertriebenen Polen. Przemysl zum Beispiel, die Endstation meines Kurswagens, ist vor dem Zweiten Weltkrieg eine ukrainisch geprägte Stadt gewesen. Heute wohnen dort nur Polen. Während Lemberg eine große polnische Gemeinde hatte; heute leben dort nur Russen und Ukrainer.
Vor dem Fenster war es dunkel geworden. Man sah nichts mehr außer die vorbeifliegenden Lichter polnischer Dörfer. Ich zog das Rollo herunter und hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ich in einem Raumschiff und flöge durch Raum und Zeit. Der Zug würde Richtung Süden durch Schlesien fahren, durch Glogau, Opeln und Breslau – wie die Städte vor dem Zweiten Weltkrieg hießen; Głogów, Opole und Wrocław, wie sie heute heißen. Dann ginge es in Richtung Osten, nach Krakau, und morgen früh, kurz vor neun, kämen wir dann in Przemysl an.