Monat: Juli 2015

Organe

Manchmal fahre ich nachts, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, mit dem Fahrrad über eine rote Ampel. Normalerweise kostet das 60 Euro, und es gibt einen Punkt in Flensburg. Ist die Ampel länger als eine Sekunde rot, erhöht sich die Strafe auf 100 Euro bei gleicher Punktzahl. Sollte es zu einer Gefährdung oder einem Unfall kommen, kann es bis zu 180 Euro kosten. Aber es gibt auch andere Wege, den Betrag zu erhöhen, wie ich von einem Freund weiß, der nachts einmal mehrere rote Ampeln mit dem Fahrrad überfahren hatte. Zwei Polizisten waren ihm langsam gefolgt und hatten mitgezählt, was ihnen auch deshalb so gut gelang, weil sie die einzigen Autofahrer auf der Straße waren und somit den Verkehr durch langsames Fahren nicht aufhielten. Ich weiß nicht, ob sie irgendwann beschlossen, jetzt sei es genug, oder ob ihnen einfach die roten Ampeln ausgingen, auf jeden Fall hielten sie ihn am Ende an. Auch an die Höhe des kumulierten Betrages erinnere ich mich nicht mehr, nur daran, dass es zwar teuer war, aber ihm wegen der vielen Ampeln ein Rabatt gewährt wurde.

Letztens nun fahre ich mit A. die Kreuzbergstraße hinunter. Es ist ein angenehmes Fahren, denn von Schöneberg aus geht es bergab, und es gibt einen von der Fahrbahn abgetrennten Fahrradstreifen. Rechts neben der Straße befindet sich der Victoriapark, in dem sich der Kreuzberg erhebt, nach dem der Bezirk benannt wurde. Auf der Höhe des künstlichen Wasserfalls mündet von links die Großbeerenstraße ein. Fußgänger und von links einbiegender Autoverkehr werden hier mit einer Ampel geregelt. Ich fahre voraus, halte aber reflexartig an der roten Ampel an, obwohl weder von links kommende Autos noch Fußgänger zu sehen sind. Als A., die aus Irland stammt, an mir vorbeizieht, denke ich, wie deutsch ich doch bin. Danach tröste ich mich mit dem Gedanken, dass ich mich zu nichts zwingen lasse, auch nicht, über eine rote Ampel zu fahren.

Als die Ampel grün wird, überholt mich ein Polzeiwagen und hält A. zweihundert Meter weiter an. Als ich dazukomme, ist die Diskussion bereits im fortgeschrittenen Stadium. Das heißt, es spricht der Polizist, der am Steuer sitzt. Seine Kollegin auf dem Beifahrersitz sieht uns nur schweigend an. Auch A. hat offenbar nichts gesagt, was in solchen Situationen immer die beste Lösung ist. Denn auch wenn die Ampel erst 0,5 Sekunden rot gewesen wäre, also eigentlich nur 60 Euro fällig würden, hätte eine Diskussion darüber nichts gebracht. Sie hätte den Polizisten nur noch mehr motiviert, einen Strafzettel auszustellen. Und vor Gericht haben Polizisten sowieso die besseren Karten. Es hätte für Olympia zertifizierte Zeitmessgeräte bedurft, um nachzuweisen, dass es keine Sekunde rot gewesen war.

Dann wendet sich plötzlich die Polizistin an mich: „Das gilt auch für Sie, Sie sind bereits bei Orange losgefahren.“ An dieser Stelle hätte ich gerne etwas erwidert, aber ich riss mich zusammen und wartete. Der Polizist redete weiter, wobei A. dann irgendwas nicht verstanden hatte. Sie sagte: „Ich hab nicht verstanden, ich komme nicht aus Deutschland.“ „Ach so“, sagte der Polizist und stellte fließend auf Englisch um, ja, er wurde jetzt sogar freundlicher im Ausdruck. Sein Englisch war gar nicht so schlecht, wie ich fand, aber A. winkte später verächtlich ab, als ich das sagte. Am Ende stellte er dann noch eine Frage, wieder auf Deutsch: „Haben Sie einen Organspendeausweis?“ Nachdem wir verneint hatten, durften wir weiterfahren.

Brenner

Schon bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof Brenner sahen wir die Flüchtlinge. Fast alle waren Afrikaner, junge Männer, manche erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und ein paar Frauen, von denen eine ein kleines Kind auf dem Rücken trug. Ihre Stimmung schien nicht schlecht zu sein. Die meisten standen da und beobachteten den Zug, aber manche unterhielten sich auch. Wahrscheinlich ging es darum, ob die Gelegenheit günstig sei mitzufahren. Ich wusste, dass sie nach Deutschland wollten, und ein paar Wochen zuvor hatten einige versucht, auf den Puffern eines Waggons ihr Ziel zu erreichen. Es war nichts passiert, aber der Zug hatte sich verspätet, und die italienischen Polizisten, die auf dem Bahnsteig patrouillierten, wollten wohl vor allem das verhindern.

Auf der Strecke zum Brenner war in einem der kleinen Südtiroler Orte eine Gruppe von fünf Männern in unseren Waggon gestiegen. Sie unterhielten sich lautstark und lachten, sodass A. schon genervt guckte. Wahrscheinlich wollten sie das Wochenende in München verbringen. Als nach einer Weile die ersten Flüchtlinge im Gang auftauchten, machten sie sich über sie lustig. Ich war peinlich berührt. Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil ich das Gefühl hatte, als sei das ganze Elend Afrikas zu uns eingestiegen. Das, was so weit entfernt war, was ich nur von Bildern her kannte, stand jetzt vor mir. Ich hatte Mitleid mit den Männern und Frauen und ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Aber ich tat nichts.

Natürlich hatten die Flüchtlinge die Witze der Südtiroler nicht verstanden. Schüchtern gingen sie den Gang entlang, blieben stehen und sahen sich um. Der Waggon war relativ leer, aber offenbar waren sie sich nicht sicher, ob sie sich auf die freien Plätze setzen sollten. Als der Zug losfuhr, waren in unserem Waggon drei oder vier geblieben. Sie saßen jeder für sich über das ganze Abteil verteilt. A. sagte, sie hätte auf dem Weg zur Toillette gesehen, wie sich einer im Zwischenraum zwischen zwei abgewandte Sitze versteckte hatte.

Nachdem der Zug losgefahren war, kam die Schaffnerin, eine füllige Frau, die sich durch nichts aus der Ruhe zu bringen lassen schien. Gut gelaunt kontrollierte sie unsere Tickets, machte einen Scherz und bat uns, die Papierstreifen der Reservierungen aus den Halterungen über unseren Sitzen zu ziehen. Einige Zeit später tauchten am anderen Ende des Waggons drei Männer und eine Frau von der Bundespolizei auf, die auf einem der österreichischen Bahnhöfe zugestiegen sein mussten. Sie trugen schusssichere Westen und ihre Pistolen baumelten bedrohlich in den Halterungen an ihren Hüften. Jeweils zwei gingen vor und nach den Flüchtlingen. Und immer wenn sie einen Neuen entdeckten, fragten sie: „Do you speak english? Do you have a passport? You come from Ethiopia? You come from Pakistan?“ Keiner der Flüchtlinge antwortete, auch nicht der einzige, der aussah, als käme er aus Pakistan.

Als die Gruppe auf unserer Höhe angelangt war, fragte ich, was denn mit den Männern und Frauen geschehe. „Die werden in ein Flüchtlingslager gebracht“, antwortete einer der Polizisten, „und dann wird geprüft, ob sie Asyl erhalten.“ Dann tauchte die Schaffnerin wieder auf. Sie sagte, sie hätte noch zwei gefunden, zwischen den Sitzen, aber die kämen nicht raus. Wenn sie versuche, sie rauszuziehen, würden sie schreien. Einer der Polizisten ging mit ihr nach hinten und kurz darauf kam er mit einem weiteren Flüchtling zurück.

Polizisten und Flüchtlinge standen noch eine Zeit lang in der Eingangstür zu unserem Abteil. In Kufstein stiegen sie dann aus. Als wir im Münchner Hauptbahnhof den langen Bahnsteig hinuntergingen, sah ich einen der Afrikaner. Er hatte es geschafft. Er ging mit uns in Richtung Ausgang, blieb aber am Ende des Bahnsteigs stehen. Man sah, dass er nicht hierher gehörte. Nicht wegen seiner dunklen Hautfarbe, sondern weil er sich unsicher umsah und weil er kein Gepäck dabei hatte. Er wirkte nicht unzufrieden, aber auch nicht froh. Er schien auf das Kommende zu warten. Ich musste an die Bremer Stadtmusikanten denken, an die Stelle, wo der Esel zum Hahn sagt: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“.

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